1791

93.*


1791, 8. (?) October.


Mit Christoph Martin Wieland

Ich habe Ihrem [Schiller's] Auftrage zufolge mit G[oethe] wegen Aufschub der Vorstellung Ihres »Don Carlos« gesprochen. So willig er sich aus Achtung gegen Sie bezeigte, so verbarg er mir doch nicht, daß er sehr ungern daran gehe. Er war gesonnen gewesen, »D. Carlos« künftigen Sonnabend zu geben, und gegen[123] seine rationes decidendi, die sich ganz auf den Gesichtspunkt eines Theaterdirectors gründeten, war in dieser Rücksicht nicht viel einzuwenden. Das Interesse der Cassa und der Umstand, daß das Stück den Schauspielern noch frisch im Gedächtniß ist, vereinigten sich, ihn zu determiniren, es um soviel balder zu geben, da die Erwartung des Publikums sehr darauf gespannt ist. Hierzu kommt noch der Umstand, daß den Schauspielern nichts beschwerlicher und beinahe unmöglicher ist, als ein Stück, das sie einmal memorirt haben, mit Veränderung des Textes von neuem einzustudiren. Sie entschließen sich nicht nur sehr ungern dazu, weil diese Operation für so mechanische Wesen sehr penibel ist, sondern die Erfahrung hat auch von jeher gezeigt, daß sobald sie im wirklichen Spiel begriffen sind, die alte habitude im Moment die Oberhand gewinnt, und die neu memorirte Veränderung ihnen erst auf die Zunge kommt, wenn sie die Stelle so, wie sie solche zum ersten Mal einstudirt hatten, hergesagt haben. Dessen allen ungeachtet hat sich G. doch erklärt, daß er aus Deferenz für Ihren Wunsch den »D. Carlos« bis in die letzte Woche dieses Monats, allenfalls bis zum letzten Tag desselben zurückbehalten wolle, und dies ist alles, was er glaubt, daß ihm billigerweise zugemuthet werden könne.[124]


94.*


1791, 8. October.


Bei Christoph Martin Wieland

(Nach einem Abendessen bei Wieland, am 8. Oct. 1791.)

– – – – – – –

Über die Ursachen wurde gesprochen, warum man in hiesiger Gegend so wenig erträgliche Gesichter unter den Bauernmädchen fände. Wieland fand die vorzüglichste in dem vielen Kuchenfressen, da es jährlich wohl acht Festtage giebt, wobei der Magen mit Kuchenteig vollgestopft wird. Goethe bemerkte, daß die hier überall gewöhnliche Sitte, jede Last auf dem Rücken zu schleppen, den Körperwuchs zerdrücke und platte Physiognomien hervorbringe. Bei den alten Griechen und in Italien trügen die Mädchen alles auf dem Kopf. Es gebe eine sehr angenehme Form im Umrisse, ein schlankes Mädches mit einem gut geformten Wasserkruge auf dem Kopfe mit größter Leichtigkeit einhergehen zu sehen. In Italien gebe es auch, die Seehäfen ausgenommen, selbst unter dem männlichen Geschlechte wenig Lastträger und Crocheteurs. Der ärmste Kohlgärtner halte doch seinen Esel, den er früh mit Gewächsen beladen hereintreibe und dafür den Dünger empfange, den er wieder in sein Gärtchen aus der Stadt hinausschleppe.

[125] Goethes Erzählung von dem, aus zwei natürlichen Felsen gehauenen Theater von Taormina in Sicilien. Die Alten benutzten die Natur zu solchen großen Werken, daher Goethe auch die Geschichte mit dem Sosthenes, der dem Alexander die architektonische Gasconade gemacht haben soll, nicht so ganz unwahrscheinlich fand. (Le voyage par Mr. Hovel sehr empfohlen.) Übrigens versicherte mich [Böttiger] Goethe, was ich auch von andern Reisenden so oft bestätigt gehört habe, daß unser den niedern Volksklassen in Italien noch fast durchaus die Sitten, Denkart und Gebräuche wiedergefunden werden, wie wir sie in den alten Schriftstellern bezeichnet finden. Auch die Religion ist überall auf heidnische Superstition gepflanzt. – Vom ungesunden Klima in Rom. Überall giebt es Häuser daselbst, die wegen der Malaria nicht bewohnt werden. Oft ist es jedoch nur Vorurtheil. Man könne mit Recht sagen, daß die Römer aus Drang und Noth Welteroberer geworden wären, weil es ihnen zuhause in ihrem inficirten Neste nicht gefallen konnte. Doch sei es glaublich, daß bei der stärkeren Cultur der campagna di Roma vorzeiten das Klima weniger Krankheitsstoff in sich gehabt habe. – Einige Engländer haben den Einfall gehabt, die Tiber in ein andres Bette um Rom herumzuleiten, um in ihrem ausgetrockneten Bette Schätze versenkter Alterthümer wiederzufinden.

Es ist dies ein, der Lage Rom's nach, unmögliches Unternehmen. Die Tiber hat übrigens gewiß allein[126] den ältesten Bewohnern Rom's Anlaß gegeben, das auf dem hohen Berg göttlich liegende Alba zu verlassen und sich in diesem Sumpfloch anzusiedeln, welches ohne diesen Beweggrund ein Unternehmen von lauter Tollhäuslern gewesen wäre.

Goethe bereiste Italien vorzüglich der Kunst wegen seinem Kennerauge ist hier nichts entgangen. So wurde z.B. die Frage aufgeworfen, wie die Alten bei ihren Riesengebäuden die ungeheuern Steinmassen in solche Höhen hinaufgebracht hätten. Hier sagte Goethe, daß er in Sicilien einen unvollendeten Tempel gesehn hätte, wo an den Quadersteinen noch auf beiden Seiten die Henkel sichtbar gewesen wären, um welche man die Seite geschlungen und die man alsdann beim Aneinanderpassen abgeschlagen habe. Übrigens habe man lauter solche schneckenförmig auflaufende Gerüste gehabt, wie sie in Merian's Bilderbibel noch um den babylonischen Thurm herum zu sehen wären. – Goethe bewundert auf den alten Münzen die schönen festen Umrisse aller Formen, z.B. auf den Münzen von Tarent den Delphin. Aber auch hier hat er über Verhältnisse und Proportionen treffliche Beobachtungen angestellt. So frappirte ihn z.B. lange die Bildung eines Menschenkopfes an einem Stierleib auf mehren Münzen des untern Italiens, wo ein schönes Menschengesicht doch einzig auf den Körper eines Ochsen paßt. Allein das Geheimniß besteht darin, daß der Künstler zwischen den festen hervorstehenden Theilen des Gesichts[127] ungewöhnlich verlängerte Zwischenräume angebracht hat, sowie im Gegentheil beim non plus ultra weiblicher Schönheit, der Mediceischen Venus, jene Zwischenräume außerordentlich verkürzt sind.

Es ist Wonne, Goethe über solche Gegenstände mit lichtvoller Präcision sprechen zu hören.[128]


1600.*


1791, 31. October.


Mit Friedrich Schiller

Goethe hat uns viel von Dir [Körner] erzählt und rühmt gar sehr Deine persönliche Bekanntschaft. Er fing von selbst davon an und spricht mit Wärme von seinem angenehmen Aufenthalt bei Euch und überhaupt auch in Dresden. Mir erging es mit ihm wie Dir. Er war gestern bei uns, und das Gespräch kam bald auf Kant. Interessant ist's, wie er alles in seine eigene Art und Manier kleidet und überraschend zurückgiebt,[21] was er las, aber ich möchte doch nicht gern über Dinge, die mich sehr nahe interessiren, mit ihm streiten. Es fehlt ihm ganz an der herzlichen Art, sich zu irgendetwas zu bekennen. Ihm ist die ganze Philosophie subjectivisch, und da hört denn Überzeugung und Streit zugleich auf. Seine Philosophie mag ich auch nicht ganz: sie holt zu viel aus der Sinnenwelt, wo ich aus der Seele hole. Überhaupt ist seine Vorstellungsart zu sinnlich und betastet mir zu viel. Aber sein Geist wirkt und forscht nach allen Directionen und strebt, sich ein Ganzes zu erbauen – und das macht mir ihn zum großen Mann.[22]


95.*


1791, 4. November.


Im Weimarer Gelehrten-Verein

Die Ordnung der heutigen Sitzung war folgende. Der Präsident der Gesellschaft, der Geheimerath von Goethe, eröffnet sie mit fortgesetzten Betrachtungen über das Farbenprisma. Er wiederholte erst ganz kurz die Resultate dessen, was er im ersten Hefte seiner »Beiträge zur Optik« weitläufiger und durch 24 kleine illuminirte Kupfertäfelchen, die dazu ausgegeben werden, veranschaulicht hat.

Die Hauptsätze demonstrirte er an einer schwarzen Tafel, wo er die Figuren schon vorher angezeichnet hatte, so lichtvoll vor, daß es ein Kind hätte begreifen können. Goethe ist ebenso groß als scharfsinniger Demonstrator an der Tafel, als er's als Dichter, Schauspiel- und Opern-Director, Naturforscher und Schriftsteller ist. Er erklärte sich hier im kleinen Zirkel geradezu gegen Newton's Farbentheorie, die durch seine Versuche[128] ganz umgeworfen wird, und zeigte zugleich an diesem Irrthum des großen Newton, dem nun ein Jahrhundert lang alles nachgebetet hat, sehr schön, wie Nachbeterei auch unter guten Köpfen so tief Wurzel schlagen könne.[129]


Quelle:
Goethes Gespräche. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Band 1–10, Leipzig 1889–1896, Band 1, S. 128-130.
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