Erster Aufzug

[609] Gotische Halle. Im Hintergrunde zwei Türen. An beiden Seitenwänden, links und rechts, ebenfalls eine Türe. An einer Kulisse des Vorgrundes hängt ein verrosteter Dolch in seiner Scheide. Später Winterabend. Licht auf dem Tische.

Graf Borotin. Bertha.


DER GRAF am Tische sitzend und auf einen Brief hinstarrend, den er in beiden Händen hält.

Nun wohlan, was muß geschehe!

Fallen seh ich Zweig auf Zweige,

Kaum noch hält der morsche Stamm.

Noch ein Schlag, so fällt auch dieser

Und im Staube liegt die Eiche,

Die die reichen Segensäste

Weit gebreitet rings umher.

Die Jahrhunderte gesehen

Werden, wachsen und vergehen,

Wird vergehen so wie sie;

Keine Spur wird übrig bleiben;

Was die Väter auch getan,

Wie gerungen, wie gestrebt,

Kaum daß fünfzig Jahr verfließen

Wird kein Enkel mehr es wissen

Daß ein Borotin gelebt!

BERTHA am Fenster.

Eine grause Nacht, mein Vater!

Kalt und dunkel wie das Grab.

Losgerißne Winde wimmern

Durch die Luft, gleich Nachtgespenstern;

Schnee soweit das Auge trägt,

Auf den Hügeln, auf den Bergen,

Auf den Bäumen, auf den Feldern,

Wie ein Toter liegt die Erde

In des Winters Leichentuch;

Und der Himmel, sternelos,

Starrt aus leeren Augenhöhlen

In das ungeheure Grab

Schwarz herab![609]

GRAF.

Wie sich doch die Stunden dehnen!

Was ist wohl die Glocke, Bertha?

BERTHA vom Fenster zurückkommend, und sich, dem Vater gegenüber, zur Arbeit setzend.

Sieben Uhr hats kaum geschlagen.

GRAF.

Sieben? Und schon dunkle Nacht! –

Ach, das Jahr ist alt geworden,

Kürzer werden seine Tage,

Starrend stocken seine Pulse

Und es wankt dem Grabe zu.

BERTHA.

Ei, kommt doch der holde Mai,

Wo das Feld sich kleidet neu,

Wo die Lüfte sanfter wehen

Und die Blumen auferstehen!

GRAF.

Wohl wird sich das Jahr erneuen,

Diese Felder werden grünen,

Diese Bäche werden fließen,

Und die Blume, die jetzt welket,

Wird vom langen Schlaf erwachen

Und das Kinderhaupt erheben

Von dem weißen, weichen Kissen,

Öffnen ihre klaren Augen

Freundlich lächelnd wie zuvor.

Jeder Baum, der jetzt im Sturme

Seine nackten, dürren Arme

Hilfeflehend streckt zum Himmel,

Wird mit neuem Grün sich kleiden.

Alles was nur lebt und webt

In dem Hause der Natur,

Weit umher, in Wald und Flur,

Wird sich frischen Lebens freuen,

Wird im Lenze sich erneuen:

Nie erneut sich Borotin!

BERTHA.

Ihr seid traurig, lieber Vater!

GRAF.

Glücklich, glücklich nenn ich den,

Dem des Daseins letzte Stunde

Schlägt in seiner Kinder Mitte.

Solches Scheiden heißt nicht Sterben;[610]

Denn er lebt im Angedenken,

Lebt in seines Wirkens Früchten,

Lebt in seiner Kinder Taten,

Lebt in seiner Enkel Mund.

O es ist so schön, beim Scheiden

Seines Wirkens ausgestreuten Samen

Lieben Händen zu vertraun,

Die der Pflanze sorglich warten,

Und die späte Frucht genießen;

Im Genusse doppelt fühlend

Den Genuß und das Geschenk.

O es ist so süß, so labend,

Das was uns die Väter gaben

Seinen Kindern hinzugeben

Und sich selbst zu überleben!

BERTHA.

Über diesen bösen Brief!

Ihr wart erst so heiter, Vater,

Schienet seiner euch zu freuen,

Und nun, da ihr ihn gelesen,

Seid mit eins ihr umgestimmt.

GRAF.

Ach, es ist nicht dieses Schreiben,

Seinen Inhalt konnt ich ahnen.

Nein es ist die Überzeugung,

Die sich immer mehr bewährt;

Daß das Schicksal hat beschlossen,

Von der Erde auszustoßen

Das Geschlecht der Borotin!

Sieh, man schreibt mir, daß ein Vetter,

Den ich kaum einmal gesehen,

Der der einzge außer mir

Von dem Namen unsers Hauses,

Kinderlos, ein welker Greis,

Gählings über Nacht gestorben.

Und so bin ich denn der Letzte

Von dem hochberühmten Stamme,

Der mit mir zugleich erlischt.

Ach, kein Sohn folgt meiner Bahre,

Trauernd wird der Leichenherold[611]

Meines Hauses Wappenschild,

Oft gezeigt im Schlachtgefild,

Und den wohlgebrauchten Degen

Mir nach in die Grube legen.

Es geht eine alte Sage,

Fortgepflanzt von Mund zu Mund,

Daß die Ahnfrau unsers Hauses,

Ob begangner schwerer Taten,

Wandeln müsse ohne Ruh,

Bis der letzte Zweig des Stammes,

Den sie selber hat gegründet,

Ausgerottet von der Erde.

Nun wohlan, sie mag sich freuen,

Denn ihr Ziel ist nicht mehr fern!

Fast möcht ich das Märchen glauben,

Denn fürwahr ein mächtger Finger

War bemüht bei unserm Fall.

Kräftig stand ich, herrlich blühend

In der Mitte dreier Brüder;

Alle raubte sie der Tod!

Und ein Weib führt ich nach Hause,

Schön und gut und hold wie du.

Hochbeglückt war unsre Ehe

Und ein Knabe und ein Mädchen

Sproßten aus dem keuschen Bund.

Bald wart ihr mein einzger Trost,

Meine einzge Lebensfreude,

Denn mein Weib ging ein zu Gott.

Sorgsam, wie mein Augenlicht,

Wahrte ich die teuern Pfänder;

Doch umsonst! Vergeblich Streben!

Welche Klugheit, welche Macht,

Mag das Opfer wohl erhalten,

Das die finsteren Gewalten

Ziehen wollen in die Nacht!

Kaum drei Jahre war der Knabe,

Als er, in dem Garten spielend,

Von der Wärtrin sich verlief.[612]

Offen stand die Gartentüre,

Die zum nahen Weiher führt.

Immer sonst war sie geschlossen,

Eben damals stand sie offen,


Bitter.


Hätt ihn sonst der Streich getroffen!


Ach, ich sehe deine Tränen

Treu sich schließen an die meinen.

Weißt du etwa schon den Ausgang?

Ach, ich armer, schwacher Mann,

Habe dir wohl oft erzählet

Die alltägliche Geschichte.

Was ists weiter? – er ertrank!

Sind doch manche schon ertrunken!

Daß es just mein Sohn gewesen,

Meine ganze, einzge Hoffnung,

Meines Alters letzter Stab;

Was kanns helfen! – er ertrank –

Und ich sterbe kinderlos!

BERTHA.

Lieber Vater!

GRAF.

Ich verstehe

Deiner Liebe sanften Vorwurf.

Kinderlos konnt ich mich nennen,

Und ich habe dich, du Treue!

Ach, verzeih dem reichen Manne,

Der sein Habe halb verloren

In des Unglücks hartem Sturm,

Und nun mit der reichen Hälfte,

Lang an Überfluß gewöhnet,

Sich für einen Bettler hält.

Ach verzeih, wenn das Verlorne

In so hellem Lichte glüht,

Ist doch der Verlust ein Blitzstrahl,

Der verklärt was er entzieht!

Ja fürwahr, ich handle unrecht!

Ist mein Name denn das Höchste?

Leb ich nur für meinen Stamm?[613]

Mag ich kalt das Opfer nehmen,

Das du mit der Jugend Freuden,

Mit des Lebens Glück mir bringst!

Meines Daseins letzte Tage

Seien deinem Glück geweiht.

Ja, an eines Gatten Seite,

Der dich liebt, der dich verdient,

Werde dir ein andrer Name

Und mit ihm ein andres Glück!

Wähle von des Landes Söhnen,

Frei den künftigen Gemahl,

Denn dein Wert verbürgt mir deine Wahl!

Wie du seufzest! – Hast wohl schon gewählet?

Jener Jüngling? – Jaromir –

Jaromir von Eschen, denk ich.

Ists nicht also?

BERTHA.

Wag ich es? –

GRAF.

Glaubtest du dem Vaterauge

Bleib ein Wölkchen nur verborgen,

Das an deinem Himmel hängt?

Sollt ich gleich wohl eher schelten,

Daß ich erst erraten muß

Was ich längst schon wissen sollte:

War ich je ein harter Vater,

Bist du nicht mein teures Kind?

Edel nennst du sein Geschlecht,

Edel nennt ihn seine Tat,

Bring ihn mir, ich will ihn kennen,

Und besteht er auf der Probe

So kann manches noch geschehn.

Fallen gleich die weiten Lehen

Als erloschen heim dem Thron,

Ein bescheidnes Los zu gründen

Hat noch Borotin genug.

BERTHA.

O wie soll ich –

GRAF.

Mir nicht danke!

Zahl ich doch nur alte Schulden.

Hast nicht dus um mich verdient,[614]

Hat nicht ers, der wackre Mann?

Denn er wars doch, der im Walde

Dir das Leben einst gerettet,

Und mit eigener Gefahr?

Ists nicht also, liebe Tochter?

BERTHA.

Oh, mit augenscheinlicher Gefahr!

Hab ichs euch doch schon erzählet,

Wie in einer Sommernacht

Ich dort in dem nahen Walde

Mich lustwandelnd einst erging,

Und, vom Schmeichelhauch der Lüfte,

Von dem Duft der tausend Blüten

Eingelullt in süß Vergessen

Weiter ging als je zuvor.

Wie mit einmal durch die Nacht

Einer Laute Klang erwacht,

Klagend, stöhnend, Mitleid flehend

Mit der Tonkunst ganzer Macht;

Girrend bald gleich zarten Tauben

Durch die dichtverschlungnen Lauben,

Bald mit langgedehntem Schall

Lockend gleich der Nachtigall,

Daß die Lüfte schweigend horchten

Und das Laub der regen Espe

Seine Regsamkeit vergaß.

Wie ich so da steh und lausche,

Ganz in Wehmut aufgelöst,

Fühl ich mich mit eins ergriffen,

Und zwei Männer, angetan

Mit des Mordes blutger Farbe,

Mit dem Dolch, den Augen dräuend,

Seh ich gräßlich neben mir.

Schon erheben sie die Dolche,

Schon glaub ich die Todeswunde,

Schreiend, in der Brust zu fühlen:

Da teilt schnell sich das Gebüsche,

Reißend springt ein junger Mann,

Hoch den Degen in der Rechten,[615]

In der Linken eine Laute

Auf die bleichen Mörder zu.

Wie er ihnen obgesieget,

Wie er, einzeln, sie bezwang,

Wie die kühne Tat gelang

Weiß ich nicht. In starre Ohnmacht

War ich zagend hingesunken.

Ich erwacht in seinen Armen,

Und zum Leben neu geboren,

Unbehilflich, schwach und duldend

Wie ein Kind am Mutterbusen

Hing ich an des Teuren Lippen

Seine heißen Küsse trinkend.

Und mein Vater, für das alles,

Was er erst für mich getan,

Konnt ich wen'ger als ihn lieben?

GRAF.

Und ihr saht euch öfter?

BERTHA.

Zufall

Ließ mich drauf ihn wieder finden.

Bald – nicht bloß der Zufall mehr.

GRAF.

Warum flieht er deines Vaters,

Seines Freundes Angesicht.

BERTHA.

Obgleich edlem Stamm entsprossen,

Nur des Hauses edler Stolz,

Nicht sein Gut kam auf den Erben.

Arm und dürftig wie er ist,

Fürchtet er, hört ich ihn sagen,

Daß der reiche Borotin

Andern Lohn für seine Tochter,

Als die Tochter selber, zahle.

GRAF.

Ich weiß Edelmut zu ehren,

Wenn er sich und andre ehrt.

Bring ihn mir, er soll erfahren,

Daß dem reichen Borotin

Er sein reichstes Gut erhalten,

Soll erfahren, daß dein Vater

Für das Gold der ganzen Welt

Dich nicht für bezahlet hält. –[616]

Doch jetzt, Bertha, nimm die Harfe

Und versuch es, meinen Kummer

Um ein Stündchen zu betrügen.

Spiel ein wenig, liebe Tochter!


Bertha nimmt die Harfe. Bald nach den ersten Akkorden nickt der Alte und schlummert ein. Sobald er schläft stellt Bertha die Harfe weg.


BERTHA.

Schlummre ruhig, guter Vater!

Daß doch all die süßen Blumen,

Die du streust auf meinen Pfad,

Dir zum Kranze werden möchten

Auf dein sorgenschweres Haupt. –

Ich soll also ihm gehören,

Mein ihn nennen, wirklich mein?

Und das Glück, das schon als Hoffnung

Mir der Güter größtes schien,

Gießt in freudiger erfüllung

Mir sein schwellend Füllhorn hin!


Ich kanns nicht fassen,

Mich selber nicht fassen,

Alles zeigt mir und spricht mir nur ihn,

Den Wolken, den Winden

Möcht ichs verkünden,

Daß sies verbreiten so weit sie nur ziehn!


Mir wirds zu enge

In dem Gedränge

Fort auf den Söller, wie lastet das Haus;

Dort von den Stufen

Will ich es rufen

In die schweigende Nacht hinaus.


Und naht der Treue,

Dem ich mich weihe,

Künd ich ihm jubelnd das frohe Geschick

An seinem Munde

Preis ich die Stunde

Preis ich die Liebe, preis ich das Glück.


Ab.

[617] Pause. – Die Ahnfrau, Berthan an Gestalt ganz ähnlich, und in der Kleidung nur durch einen wallenden Schleier unterschieden, erscheint neben dem Stuhle des Schlafenden und beugt sich schmerzlich über ihn.


GRAF unruhig im Schlafe.

Fort von mir! – Fort! – Fort!


Er erwacht.


Ah – bist du hier meine Bertha?

Ei das war ein schwerer Traum,

Noch empört sich mir das Innre!

Geh doch nach der Harfe, Bertha,

Mich verlangts Musik zu hören!


Die Gestalt hat sich aufgerichtet und starrt den Grafen mit weitgeöffneten toten Augen an.


GRAF entsetzt.

Was starrst du so graß nach mir,

Daß das Herz im Männerbusen

Sich mit bangem Grausen wendet,

Und der Beine Mark gerinnt!

Weg den Blick! Von mir die Augen!

Also sah ich dich im Traume

Und noch siedet mein Gehirn.

Willst du deinen Vater töten?


Die Gestalt wendet sich ab und geht einige Schritte gegen die Türe.


GRAF.

So! – Nun kenn ich selbst mich wieder! –

Wohin gehst du Kind?

DIE GESTALT wendet sich an der Türe um. Mit unbetonter Stimme.

Nach Hause.


Ab.


DER GRAF stürzt niedergedonnert in den Sessel zurück. Nach einer Weile.

Was war das? – Hab ich geträumt? –

Sah ich sie nicht vor mir stehn,

Hört ich nicht die toten Worte,

Fühl ich nicht mein Blut noch starren

Von dem grassen, eis'gen Blick? –

Und doch, meine sanfte Tochter! –

Bertha! Höre, Bertha!


Bertha und Kastellan kommen.
[618]

BERTHA hereinstürzend.

Ach, was fehlt euch, lieber Vater?

GRAF.

Bist du da! Was ficht dich an,

Sprich, was ists, unkindlich Mädchen,

Daß du wie ein Nachtgespenst

Durch die öden Säle wandelst

Und mit seltsamen Beginnen

Lebensmüde Schläfer schreckst?

BERTHA.

Ich, mein Vater?

GRAF.

Du, ja du!

Wie, du weißt nicht? Und noch haften

Deine starren Leichenblicke

Mir gleich Dolchen in der Brust.

BERTHA.

Meine Blicke?

GRAF.

Deine Blicke!

Zieh nicht staunend auf die Augen!

Siehst du, so! – doch nein, viel starrer!

Starr? – die Sprache hat kein Wort!

Blickst du mich liebkosend an,

Um den Eindruck wegzuwischen

Jenes finstern Augenblicks?

All umsonst! So lang ich lebe

Wird das Schreckbild vor mir stehn,

Auf dem Todbett werd ichs sehn!

Scheint dein Blick gleich Mondenschimmer

Über einer Abendlandschaft,

O ich weiß, er kann auch töten!

BERTHA.

Ach, was hab ich denn begangen,

Das euch also aufgeregt,

Und euch heißt die Augen schelten,

Die den euern bang begegnend

Sich mit Wehmutstränen füllen.

Daß ich euch im Schlaf verlassen,

Unbedachtsam fortgegangen –

GRAF.

Daß du fortgingst? – Daß du hier warst!

BERTHA.

Daß ich hier war?

GRAF.

Standst du nicht

Hier auf dieser, dieser Stelle

Schießend deine kalten Pfeile

Nach des grauen Vaters Brust.[619]

BERTHA.

Als ihr schliefet?

GRAF.

Kurz erst, jetzt erst!

BERTHA.

Eben komm ich von dem Söller!

Als der Schlummer euch umfing

Ging ich sehnsuchtsvoll hinaus

Nach dem Teuern umzuschauen.

GRAF.

Schändlich! – Mädchen, höhnst du mich?

BERTHA.

Höhnen? – ich, mein Vater? – ich?


Mit überströmenden Augen zu Günther.


Ach sprich du! – Ich weiß nicht – kann nicht!

GÜNTHER.

Ja fürwahr, mein gnädger Herr,

Ja, das Fräulein kömmt vom Söller.

Ich stand bei ihr, und wir schauten

In die schneeerhellte Gegend

Ob kein Wanderer sich nahe.

Erst als ihr sie gellend rieft,

Eilte sie mit mir herbei.

GRAF rasch.

Und ich sah –

GÜNTHER.

Ihr sahet –?

GRAF.

Nichts!

GÜNTHER.

Ihr saht etwa –?

GRAF.

Nichts! nichts sag ich!


Vor sich hin.


Es ist klar, ich hab geträumt!

Wenn sich gleich die Sinne sträuben,

Das Gedächtnis es verneint,

Doch ists so; ich hab geträumt!

Kann der Schein sich also hüllen

Ins Gewand der Wirklichkeit?

Diese Hand seh ich nicht klarer

Als ich jenes Bild gesehn!

Und doch, meine sanfte Bertha!

Es ist klar, ich hab geträumt! –

Was stehst du so ferne, Bertha?

Hast du keinen Vorwurf, Liebe,

Für den harten, rauhen Vater

Der so bitter dich gekränkt?

Ach, so warst du schon als Kind,[620]

Trugest immerdar zugleich

Der Beleidgung herben Schmerz

Und das Unrecht des Beleidgers.

Immer gut und immer schuldlos,

Schienst du stets die Schuldige –

BERTHA an seiner Brust.

Und bin ich nicht wirklich schuldig?

Wenn auch nicht als Grund des Zornes,

Ach, doch als sein Gegenstand!

GRAF.

Du verzeihst mir also, Bertha?

BERTHA.

Ihr habt wohl geträumt, mein Vater!

Es gibt gar lebendge Träume!

Oder dieser Halle Dunkel

Matt vom Kerzenlicht erhellt

Täuscht' in trügender Gestaltung

Euer schlummertrunknes Aug.


O, ich hab es oft erfahren,

Wie die Sinne, aufgeregt,

Stumpfe Diener unsrer Seele,

Gern für wahr und wirklich halten

Die verworrenen Gestalten,

Die der Geist in sich bewegt.

Gestern nur, mein Vater, ging ich

In des Zwielichts mattem Strahl

Durch den alten Ahnensaal.

In der Mitte hängt ein Spiegel,

Halb erblindet und voll Flecken.

Wie ich ihn vorüber gehe

Bleib ich, meinen Anzug musternd,

Vor dem matten Glase stehn.

Eben senk ich nach dem Gürtel

Nieder meine beiden Hände,

Da – ihr werdet lachen, Vater!

Und auch ich muß jetzt fast lächeln

Meiner kindisch schwachen Furcht,

Doch in jenem Augenblicke

Konnt ich nur mit Schreck und Grauen[621]

Das verzerrte Wahnbild schauen.

Wie ich senke meine Hände,

Um den Gürtel anzuziehn,

Da erhebt mein Bild im Spiegel

Seine Hände an das Haupt,

Und mit starrendem Entsetzen

Seh ich in dem dunkeln Glase

Meine Züge sich verzerren.

Immer sind es noch dieselben

Und doch anders, furchtbar anders,

Und mir selbst nicht ähnlicher

Als ein Lebendger seiner Leiche.

Weit reißt es die Augen auf

Starrt nach mir, und mit dem Finger

Droht es warnend gegen mich.

GÜNTHER.

Weh, die Ahnfrau!

GRAF wie von einem plötzlichen schrecklichen Gedanken ergriffen, vom Sessel aufspringend.

Ahnfrau!

BERTHA verwundert.

Ahnfrau?

GÜNTHER.

Saht ihr nie ihr Bild im Saale,

Euch so ähnlich, gnädges Fräulein,

Gleich als hättet ihr dem Maler,

Lieblich wie ihr seid, gesessen?

BERTHA.

Oftmals hab ichs wohl gesehn,

Es mit Staunen mir betrachtet,

Und es war mir immer teuer

Wegen dieser Ähnlichkeit.

GÜNTHER.

Und ihr kennet nicht die Sage,

Die von Mund zu Munde geht?

BERTHA.

Schon als Kind hört ichs erzählen,

Doch ein Märchen nennts der Vater.

GÜNTHER.

Ach, er fühlts zu dieser Frist,

Wie er sichs auch selbst verhehle,

Fühlts im Tiefsten seiner Seele,

Daß es mehr als Märchen ist.

Ja, die Ahnfrau eures Hauses,

Jung und blühend noch an Jahren,

Bertha, so wie ihr geheißen,[622]

Schön und reizend, so wie ihr,

Von der Eltern Hand gezwungen,

Zu verhaßter Ehe Bund,

Sie vergaß ob neuen Pflichten

Langgehegter Liebe nicht;

In den Armen ihres Buhlen

Überfiel sie der Gemahl.

Durstend seine Schmach zu rächen,

Straft er selber das Verbrechen

Stieß ins Herz ihr seinen Stahl,

Jenen Stahl, den in der Blinde

Man dort aufgehangen hat,

Zum Gedächtnis ihrer Sünde,

Zum Gedächtnis seiner Tat.

Ruhe ward ihr nicht vergönnet,

Wandeln muß sie ohne Rast,

Bis das Haus ist ausgestorben,

Dessen Mutter sie gewesen,

Bis weit auf der Erde hin

Sich kein einzger Zweig mehr findet

Von dem Stamm den sie gegründet,

Von dem Stamm der Borotin.

Und wenn Unheil droht dem Hause,

Sich Gewitter türmen auf,

Steigt sie aus der dunkeln Klause

An die Oberwelt herauf.

Da sieht man sie klagend gehen,

Klagend, daß ihr Macht gebricht,

Denn sie kanns nur vorhersehen,

Ab es wenden kann sie nicht!

BERTHA.

Und das ist es –?

GÜNTHER.

Das ist alles

Was ich hier zu sagen wage,

Wenn gleich all nicht was ich weiß.

Eines ist noch übrig, eines,

Das des Hauses ältre Diener,

Das der Gegend welke Greise

Bang sich in die Ohren raunen,[623]

Das der Sage heilger Mund

Aus der Väter fernen Tagen

In die Enkelwelt getragen.

Eines, das den Schlüssel gibt

Zu so manchem finstern Rätsel,

Das ob diesem Hause brütet.

Aber wag ich es zu sagen

Hier an diesem, diesem Ort

Wo noch kurz zuvor der Schatten –


Mit scheuen Blicken umhergehend. Bertha schmiegt sieh an ihn, und folgt mit ihren Augen den seinigen.


Runzelt ihr die hohen Brauen

Edler Herr? Ich kann nicht anders!

Meinen Busen wills zerbrechen

Und es drängt michs auszusprechen

Beb ich selber gleich zurück. –

Kommt hierher, mein Fräulein, hierher

Und vernehmt und staunt und bebt. –

Mit der Ahnfrau blutger Leiche

Ward der Sünde Keim begraben,

Aber nicht der Sünde Frucht.

Das Verbrechen, das des Gatten

Blutger Rachestahl bestraft,

War, wie jene Sage spricht,

Wohl das Letzte ihres Lebens

Aber ach, ihr erstes nicht.

Ihres Schoßes einzger Sohn,

Den ihr unter euren Ahnen,

Unter euren Vätern zählt,

Der des mächtgen Borotin

Lehen, Gut und Namen erbte,

Er –

GRAF.

Schweig!

GÜNTHER.

Es ist ausgesprochen.

Er, dem Vater unbewußt,

War ein Pfand geheimer Lust,

War ein Denkmal ihrer Sünde!

Darum muß sie klagend wallen[624]

Durch die weiten, öden Hallen,

Die das Werk von Trug und Nacht

Auf ein fremd Geschlecht gebracht.

Und in jedem Enkelkinde,

Das entsproßt aus ihrem Blut,

Haßt sie die vergangne Sünde,

Liebt sie die vergangne Glut.

Also harret sie seit Jahren,

Wird noch harren jahrelang

Auf des Hauses Untergang;

Und ob der sie gleich befreiet,

Hütet sie doch jeden Streich,

Der dem Haupt der Lieben dräuet,

Den sie wünscht und scheut zugleich.

Darum wimmert es so kläglich

In den halbverfallnen Gängen,

Darum pochts in dunkler Nacht –


Entferntes Getöse.


BERTHA.

Himmel!

GÜNTHER.

Weh uns!

GRAF.

Was ist das?


Das Getöse wiederholt sich.


Fast gefährlich scheint dein Wahnsinn

Er steckt auch Gesunde an.

An die Pforte wird geschlagen

Einlaß fordernd. Geh hinab

Und sieh zu, was man begehrt!


Günther ab.


BERTHA.

Vater, du siehst bleich! Ists Wahrheit

Was der alte Mann da spricht?

GRAF.

Was ist wahr, was ist es nicht?

Laß uns eignen Wertes freuen

Und nur eigne Sünden scheuen.

Laß, wenn in der Ahnen Schar

Jemals eine Schuldge war,

Alle andre Furcht entweichen

Als die Furcht ihr je zu gleichen. –

Und jetzt komm, mein liebes Kind,[625]

Führe mich nach meinem Zimmer.

Ists gleich noch nicht Schlafens Zeit

Ruhe heischt der müde Körper

Hat er doch in einer Stunde

Mehr als manchen Tag gelebt.


Ab mit Bertha.

Pause. – Dann stürzt wankend, mit verworrenem Haar und aufgerissenem Wams, einen zerbrochenen Degen in der Rechten, Jaromir herein.


JAROMIR atemlos.

Bis hierher! – Ich kann nicht weiter!

Wankend brechen meine Kniee,

Es ist aus! – Ich kann nicht weiter!


Sinkt gebrochen auf den Sessel hin.


GÜNTHER nachkommend.

Sagt doch, Herr, ist das wohl Sitte?

Einzudringen so ins Haus

Achtlos auf mein mahnend Wehren.

Sprecht, was wollt ihr? was begehrt ihr?

JAROMIR.

Ruhe! – Nur ein Stündchen Ruhe,

Nur ein kurzes Stündchen Ruhe! –

GÜNTHER.

Was ist euch begegnet, Herr?

Woher kommt ihr?

JAROMIR.

Dort – vom Walde –

Wurde – wurde überfallen –

GÜNTHER.

Ach man hört so manches Unheil

Von den Räubern dort im Walde!

Wie bedaur ich euch, mein Herr!

Ach verzeihet, wenn ich anfangs

Eure bange Hast mißdeutend

Und das Fremde eures Eintritts

Anders sprach, als ich gesollt.

Wenns euch gutdünkt, folgt mir Herr

Nach den oberen Gemächern,

Wo euch würdig Speis und Trank

Und willkommne Lagerstätte –

JAROMIR.

Nein, ich kann – ich mag nicht schlafen!

Laß mich hier in diesem Stuhl,[626]

Bis die Sinne sich gesammelt

Und ich wieder selber bin.


Er legt den Arm auf den Tisch, und den Kopf darauf.


GÜNTHER.

Was soll ich mit ihm beginnen?

Ganz verwirrt hat ihn der Schreck.

Bleib ich? geh ich? Laß ich ihn?

Ich wills nur dem Grafen melden,

Mag er selber doch empfangen

Seinen sonderbaren Gast.


Ab.


JAROMIR.

Ha, er geht, er geht! – Was soll ich?

Sei es denn! – Nun Fassung, Fassung!


Der Graf und Günther kommen.


GÜNTHER.

Hier, mein gnädger Herr, der Fremde!


Jaromir steht auf.


GRAF.

Laßt euch doch nicht stören, Herr,

Und genießt der nötgen Ruhe.

Hoch willkommen seid ihr mir,

Doppelt wert, denn euch empfiehlt

Eure Not und Euer Selbst –

JAROMIR.

Ihr verzeihet wohl die Stunde

Und die Weise meines Eintritts.

Mag mein Unfall mich entschuldgen

Wo ich selbst es nicht vermag.

Dort in jenem nahen Walde

Ward ich räubrisch überfallen.

Ich und meine beiden Diener

Wehrten lang uns ritterlich:

Aber wachsend stieg die Menge,

Meine treuen Diener lagen

Hingestreckt in ihrem Blut.

Da gewahr ich meines Vorteils,

Und ins dunkle Dickicht springend,

Schnell, die Räuber auf der Ferse,

Such ich fliehend zu entrinnen

Und das Freie zu gewinnen.

Gibt die Hoffnung schnelle Füße

Leiht dafür das Schrecken Flügel.[627]

Bald gewinn ich einen Vorsprung,

Und heraus ins Freie tretend

Blinkt mir euer Schloß entgegen.

Gastfrei schiens mich einzuladen,

Zögernd folgt ich, – und bin hier.

GRAF.

Halten wird euch der Besitzer

Was sein Eigentum versprach.

Was nur dieses Haus vermag

Ist das eure, euch zu Dienste.

BERTHA kommt.

Hört ich hier nicht seine Stimme?

Ja er ists! – Mein Jaromir!

JAROMIR.

Bertha!


Eilt auf sie zu. Plötzlich hält er ein, und tritt mit einer Verbeugung zurück.


GRAF.

Wär es etwa dieser? –

BERTHA.

Ja, er ists, er ists, mein Vater!

Ja, er ists, der mich gerettet,

Ja, er ists, der teure Mann!

GRAF.

Zieht euch nicht so fremd zurück,

Seid ihr doch nicht unter Fremden!

Schließt sie immer in die Arme;

Ihr habt euch ein Recht erworben,

Daß sie lebt ist euer Werk!

Wohl mir, daß mir ward vergönnt

Den zu sehen, dem zu danken,

Der mir meine letzten Tage,

Mir mein Sterbebett verschönt,

Mit dem Glücke mich versöhnt.

Komm an meine Brust, du Teurer,

Lebensretter, Segensengel!

Könnt ich dankbar nur mein Leben

Für dich hin, du Guter, geben,

Wie du deines gabst für sie!

JAROMIR.

Staunend steh ich und beschämt –

GRAF.

Du? An uns ists so zu stehn!

Ist doch unser Dank so wenig,

Ach, und deine Tat so viel![628]

JAROMIR.

Viel? O daß ichs sagen könnte!

Daß es etwas mich gekostet!

Daß ich eine Wunde trüge,

Eine kleine, kleine Narbe

Nur als Denkmal jener Tat!

Es kränkt tief das Köstliche

Um so schlechten Preis zu kaufen!

GRAF.

Ziert Bescheidenheit den Jüngling,

Nicht verkenn er seinen Wert!

BERTHA.

Glaubt ihm nicht, o glaubt ihm nicht!

Er liebt selber sich zu schmähen,

Ich weiß das von lange her!

Wie so oft lag er vor mir,

Meine Kniee heiß umfassend,

Und mit schmerzgebrochner Stimme

Rief er klagend, weinend aus,

Ich verdiene dich nicht Bertha!

Er nicht mich, er mich nicht! –

JAROMIR.

Bertha!

GRAF.

Wolltet ihr wohl, daß sie minder

Des Geschenkes Wert erkennte!

Trieb euch gleich zu jener Tat

Nur des Herzens edles Streben

Recht zu tun und groß und gut,

Laßt uns glauben, laßt uns schmeicheln,

Daß auf uns, auf unsre Not

Auch ein flüchtger Blick gefallen,

Daß ihr nicht nur bloß beglücken,

Daß ihr uns beglücken wolltet.

Wer sich ganz dem Dank entzieht,

Der erniedrigt den Beschenkten,

Freund, indem er sich erhebt!

JAROMIR.

Was erwidr ich auf das alles!

Wie ich bin, vom Kampf ermüdet,

Von den Schrecken dieser Nacht,

Taug ich wenig, zu bestehen

In der Großmut edlem Wettstreit.[629]

GRAF.

Mußtet ihr mich erst erinnern

Daß ihr müd und ruhedürstend!

BERTHA.

Ach, was ist ihm denn begegnet?

GRAF.

Das auf morgen, liebes Kind.

Bertha komm und laß uns gehn.

Unser Günther mag ihn weisen

In das köstlichste Gemach.

Dort umhülle tiefer Frieden

Mit der Segenshand den Müden

Bis der späte Morgen naht.

O er hat ein weiches Kissen

Ein noch unentweiht Gewissen,

Das Bewußtsein seiner Tat! –

So, noch diesen Händedruck,

So, noch diesen Segenskuß,

So, mein Sohn jetzt geh zur Ruh

Ein Engel drück das Aug dir zu!

BERTHA den Alten abführend.

Schlummre ruhig!

JAROMIR.

Lebe wohl!

BERTHA an der Türe umwendend.

Gute Nacht denn!

JAROMIR.

Gute Nacht!


Graf und Bertha ab.


GÜNTHER.

So, nun kommt mein wackrer Herr,

Ich will euch zur Ruhe leiten.

JAROMIR in den Vorgrund tretend.

Nehmt mich auf ihr Götter dieses Hauses,

Nimm mich auf du heilger Ort,

Von dem Laster nie betreten,

Von der Unschuld Hauch durchweht.

Unentweihte, reine Stelle

Werde wie des Tempels Schwelle

Mir zum heiligen Asyl! –

Unerbittlich strenge Macht,

Ha nur diese, diese Nacht,

Diese Nacht nur gönne mir,

Harte! und dann steh ich dir!


Mit Günther ab.


Ende des ersten Aufzuges.


Quelle:
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Band 1, München [1960–1965], S. 609-630.
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