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[783] Eucharis. Vorige
EUCHARIS.
Bist du hier, Rhamnes? Eilig komm!
RHAMNES.
Wohin?
EUCHARIS.
Zu Sapphon.
RHAMNES.
Was –?
EUCHARIS.
Ich fürchte, sie ist krank.
RHAMNES.
Die Götter wendens ab!
EUCHARIS.
Ich folgte ihr von fern
Hinauf zur großen Halle und versteckt
Bewacht ich all ihr Tun mit scharfem Auge.
Dort stand sie an ein Säulenpaar gelehnt,
Hinunterschauend in die weite See,
Die an den Felsenufern brandend schäumt,
Sprach- und bewegungslos stand sie dort oben,
Mit starren Augen und erblaßten Wangen,
Im Kreis von Marmorbildern, fast als ihresgleichen.
Nur manchmal regt sie sich und greift nach Blumen,
Nach Gold und Schmuck und was ihr Arm erreicht
Und wirfts hinunter in die laute See,
Den Sturz mit sehnsuchtsvollem Aug verfolgend,[783]
Schon wollt ich nahn, da tönt ein Klingen durchs Gemach,
Und zuckend fuhr es durch ihr ganzes Wesen,
Die Leier wars, am Pfeiler aufgehangen,
In deren Saiten laut die Seeluft spielte.
Schwer atmend blickt sie auf und fährt zusammen,
Wie von Berührung einer höhern Macht.
Die Augen auf die Leier starr geheftet,
Beleben sich mit eins die toten Züge
Und fremdes Lächeln spielt um ihren Mund.
Jetzt öffnen sich die strenggeschloßnen Lippen,
Es tönen Worte, schauerlichen Klangs,
Aus Sapphos Munde, doch nicht Sapphos Worte.
Rufst du mir, spricht sie, Freundin? Mahnst du mich?
O, ich versteh dich, Freundin an der Wand!
Du mahnst mich an verfloßne Zeit! Hab Dank! –
Wie sie die Wand erreicht und wie die Leier,
Hoch oben hängend, weiß ich nicht zu sagen,
Denn wie ein Blitzstrahl flirrte michs vorüber.
Jetzt blick ich hin, sie hält das Saitenspiel
Und drückt es an die sturmbewegte Brust,
Die hörbar laut den Atem nahm und gab.
Den Kranz dann, den olympischen des Sieges,
Dort aufgehangen an dem Hausaltar,
Schlingt sie ums Haupt und wirft den Purpurmantel,
Hochglühend, so wie er, um ihre Schultern –
Wer sie jetzt sah, zum erstenmale sah,
Auf des Altares hohen Stufen stehend,
Die Leier in der Hand, den Blick gehoben,
Gehoben ihre ganze Lichtgestalt,
Verklärungsschimmer über sie gegossen,
Als Überirdsche hätt er sie begrüßt,
Und zum Gebet gebeugt die schwanken Kniee.
Doch regungslos und stumm, so wie sie war,
Fühlt ich von Schauder mich und Graun ergriffen,
Ihr lebend toter Blick entsetzte mich,
Drum eilt ich –
RHAMNES.
Und verließest sie! – Zu ihr!
Doch sie! – Naht nicht? Sie ists; sie selber kommt![784]
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