Franz Grillparzer

Über den gegenwärtigen Zustand

der dramatischen Kunst

in Deutschland

Es gab vielleicht keine Zeit, wo das deutsche Volk mit seiner Literatur im allgemeinen so zufrieden war, als eben jetzt. Es fehlt zwar nicht an einzelnen Anschuldigungen und Klagen mancher Art Das ist aber eitel Koketterie. Die Stimmung im großen zeigt das Gegenteil. Da ist keine Spur mehr von der ängstlichen Bescheidenheit,[686] die sonst den Deutschen gegenüber dem Auslande charakterisierte; Anmaßung und wegwerfendes Absprechen haben deren Stelle eingenommen. Deutsches Gemüt, deutscher Fleiß, deutscher Tiefsinn, deutsche Phantasie klingts von allen Seiten, ja das Ausland scheint in die Ansicht einzugehen (oder vielmehr sie ging von ihm aus), und des Preisens unserer Art und Kunst ist kein Ende, soweit der Erdball reicht.

Nur eins – die Füße des Pfaus! – scheint uns zur Bescheidenheit aufzufordern: der eingestandene Zustand unsers Theaters, unserer dramatischen Literatur. Das Theater selbst, die Bühne, scheint nur gelegentlich in die allgemeine Verwerfung mit einbezogen zu werden, denn wenn wir auch wirklich weniger große Schauspieler haben sollten als in früheren Zeiten, so zählen wir doch mehr gute als jemals. Das Übel muß also tiefer sitzen. In der dramatischen Literatur also. – Da liegt der Knoten!

Indes die Engländer in ihrem Shakespeare eine komplette Theaterbibliothek für Jahrhunderte besitzen, die Spanier nur das Grabscheit anzusetzen brauchen um aus ihrer Vergangenheit Schätze für alle Zukunft zu erheben; die Franzosen frischweg zwei literarische Jahrhunderte – solange ihr Stolz – wegwerfen, und mit dem Neubegonnenen für das Bedürfnis der Gegenwart genügend und voll ausreichen, hat das deutsche Theater kaum ein Dutzend Stücke aus seiner Vorzeit gerettet die den Kenner befriedigen, ein bißchen Mittelgut wird zur Not geduldet; das Neue ist durchweg schlecht. Weh sei darob geklagt, besonders wenn man selbst Schriftsteller und ein Neuerer ist.

Es wäre nicht uninteressant den Ursachen dieses Übelstandes nachzuforschen, vielleicht daß bedeutende praktische Ergebnisse dabei zu gewinnen wären. Versuchen wirs denn! Ich kann nicht hoffen, den Gegenstand zu erschöpfen, der ein eigenes Buch erforderte; aber meine Andeutungen werden wenigstens den Vorzug haben, von einem die Kunst Ausübenden herzurühren, indes sich bis jetzt nur Schulgelehrte, Skizzisten und Dilettanten damit befaßten, die ihre Meinungen, ohne inneres Erleben, auf nichts zu gründen wissen als auf links und rechts zusammengelesene Beispielfälle, wo denn das Urteil nicht weiter reicht als der Fall selbst.

Aufs Praktische gehende, durch eigene Erfahrung bestätigte[687] Ansichten hier niederzulegen, wäre die Aufgabe. Und sollte mans handwerksmäßig finden! Liegt doch jeder Kunst ein Handwerk zu Grunde, und wer beide nicht zu vereinigen weiß, ist ein Stümper, nur, je nachdem das eine oder andere vorschlägt, mit einem Übergewicht von Gemeinheit oder Abgeschmacktheit. An hohen Ansichten hat es den Deutschen nie gefehlt, aber ihre Grundlagen schweben nicht selten in der Luft, und ob sie da für unsern Vorwurf am rechten Platze sei'n, soll im folgenden untersucht werden.

Von allen poetischen Formen die strengste ist die dramatische. Alle andern gehen formell von einer Wahrheit aus, die dramatische von einer Lüge, und ihre Aufgabe ist, diese Lüge aufrecht zu erhalten, ja sie in letzter Ausbildung zu einer Wahrheit zu machen. Die Lyrik spricht ein Gefühl aus, das Epos erzählt ein Geschehenes (für die Form gleichviel, ob wahr oder erdichtet), das Drama lügt eine Gegenwart.

Man hat sich in neuerer Zeit sehr lustig gemacht über die Täuschung, welche man in früherer einem Schauspiele zum Erfordernis machte, und gewiß, eine unabweisliche, zwingende Täuschung würde alle Kunst von vornherein aufheben, eine einschneidendere Wirklichkeit an deren Stelle setzen, und namentlich die Tragödie zu einem Schauspiel für Schlächter und Kannibalen machen. Es gibt aber noch eine andere willkürlich selbst übernommene Täuschung, eine Supposition, in die der Zuseher eingeht, auf die stillschweigende Bedingung, sie wegzuwerfen, wenn ihre Wirkungen lästig, wenn sie quälend würden. Die Aufgabe der dramatischen Kunst als Form besteht nun darin, daß diese Supposition einer Gegenwart (ja nicht mit Wirklichkeit zu verwechseln) aufrecht erhalten, ihre Bewahrung dem Zuseher erleichtert, und nicht gestattet werde, daß er sie aus Langerweile oder Zerstreuung fallen lasse, oder wohl gar im Widerwillen wegwerfe.

Wer diese Sätze leugnen wollte, müßte erst verhindern, daß als gegenwärtig dargestellte Personen nicht auch wie gegenwärtige wirken; er müßte ungeschehen machen, daß die dramatischen Meisterwerke aller Zeiten, gut gespielt oder gelesen, jenen tiefen Eindruck machen, den nur die Gegenwart gewährt; er müßte endlich erklären, warum man überhaupt die in jeder andern Rücksicht tun bequeme dramatische Form wählt, wenn es dabei[688] bloß auf kühle Möglichkeiten und behagliche »Es war einmal« abgesehen ist.

Dies vorausgeschickt, fragt es sich: Durch welche Mittel kann nun bewirkt werden, daß eine niemals da gewesene oder längst vergangene Begebenheit als eine wenn auch nur vorausgesetzte Gegenwart wirke? Die bloßen Gegenreden der Personen mit: tritt auf und: geht ab, reichen dazu nicht hin, wie die Erfahrung zur Genüge lehrt. Was ist es also sonst?

Die Wirklichkeit zwingt. Die Häuser in meiner Straße abzuleugnen, fällt mir nicht ein, und wenn ich morgen einen Stein vom Himmel fallen sehe, muß ich mirs gefallen lassen, ich mag es begreifen oder nicht. Wenn mir aber jemand erzählt, er habe ein Schiff in der Luft fahren gesehen, so werde ich es erst dann glauben, wenn ich es, durch Ursache und Wirkung vermittelt, in den Kreis meiner Überzeugungen aufnehmen kann. Kausalität zwingt den Geist, wie das Wirkliche die Sinne; und was als Gegenwart gelten will muß vor allem als Ursache und Wirkung streng verknüpft sich erweisen. Daher verweigert auch das Drama dem Zufall sein Spiel, und die eifrigsten Verfechter der Willensfreiheit die täglich von jedermann die tugendhaftesten Handlungen wie aus der Kanone verlangen, sind höchst erzürnt wenn derlei unmotiviert auf dem Theater vorkommt. Der Charakter sei nicht gehalten, sagen sie.

Scharf und bestimmt sind die äußern Gestalten der Wirklichkeit. Mit nebelhaften Abschattungen wird niemand eine Gegenwart anschaulich machen.

Ebenso inzisiv sind ihre innern Auskündungen. Glücklicherweise verlangt die Kunst eine Milderung mancher Gefühle des wirklichen Lebens, wer würde sonst auslangen? Und auch das was übrig bleibt, wer erreichts?

Endlich fügt sich das Wirkliche in seiner Bestimmtheit allerdings der Anwendung des Begriffs, ist ihm aber nirgends adäquat. Eine Menge Zufälligkeiten begleiten es und machen das Lebendige desselben aus, unterscheiden das wirkliche Ding von dem Gedankending.

Alles dies zugegeben, wird man von dem dramatischen Dichter, alle andern poetischen Qualitäten eingerechnet, in besonders hervorstechendem Grade folgende Eigenschaften fordern:[689]

Scharfen, sichtenden Verstand, zur Motivierung und Begründung.

Bildliche Phantasie; sie erfindet und stellt dar.

Warmes, richtiges Gefühl.

Endlich Empfindung, im Verstande der Maler genommen, wo es den Sinn für die Abstufungen und das Verfließende in den Zufälligkeiten der Natur-Typen bedeutet.

Man könnte hier stehen bleiben und im Entgegenhalt der deutschen Natur-Anlage zu ermitteln suchen, welche von diesen Eigenschaften den Nationalvorzügen entsprechen, und welche, im mindern Maße vorhanden, dem Gelingen dramatischer Kompositionen schon von vornherein störend im Wege stehen.

Es würde sich vielleicht finden, daß der deutsche Verstand seine Stärke mehr im Vorarbeiten für die Zwecke der Vernunft zeige, als in rein analytischer Brauchbarkeit für die Aufgaben des Wirklichen; daß die Abweisung des gemeinen Menschenverstandes von Seite der deutschen Philosophie, ihre Wirkungen mitunter weiter erstrecke, als auf jene abstrakten Höhepunkte, für die sie eigentlich gemeint war, und unbefangener gesunder Sinn, unbeschadet aller andern Vorzüge, unter deutschen Literatoren vielleicht seltener gefunden werde, als irgend anderswo.

Die deutsche Phantasie könnte man beschuldigen, gar zu gern ins Weite zu gehen und dadurch unbildlich zu werden. Je höher diese Kraft sich versteigt um so nebelhafter werden ihre Gebilde, bis sie endlich zu bloßen Schematen einschwinden, die den Gedanken wohl unterstützend begleiten, aber nicht mehr versinnlichen, nicht darstellen. Der Wert der Phantasie für die Kunst liegt in ihrer Begrenzung, welche die Gestalt ist. Die deutsche Phantasie liebt ihre Bilder nach einwärts, auf den Hintergrund des Gefühls zu werfen, was in der lyrischen Poesie oft hinreicht; die epische, besonders aber die dramatische Poesie fordert bestimmte Gestalten nach auswärts, die selbständig für sich dastehen, und keiner Nachhilfe von Seite des Gemütes bedürfen.

Das deutsche Gefühl sei in Ehren gehalten. Was sich dagegen, außer einer gewissen Vorliebe für die Halb-Tinten, sagen läßt, wird am besten in Verbindung mit dem folgenden Absatze ausgesprochen.

Dieser begreift die Empfindung in dem oben angedeuteten[690] Sinne. Hier liegt vielleicht die poetische Hauptschwäche der Deutschen, was um so trauriger ist, da das Geheimnis der Komposition damit allernächst zusammenhängt. Gewohnt, von scharf bestimmten Begriffen auszugehen, verlieren sie nur zu leicht den Takt für die Zufälligkeiten des Lebendigen. Da nun zugleich ihr Gefühl warm und wahr ist, an welchen Eigenschaften sie sich zu versündigen glaubten, wenn sie davon im einzelnen auch nur ein Jota abgehen ließen, so werden nur zu häufig die verschiedenen Figuren, ihre Erlebnisse, Gesinnungen, Gefühle und deren Äußerungen so haarscharf und ungeschwächt aneinander gefügt, daß man dabei an die Kartenmalerei, und wenns gut geht, an die unbehülflichen Uranfänge der bildenden Kunst erinnert wird, die noch keine Ahnung davon hat, daß die schönsten Einzelnheiten zusammen ein schlechtes Bild machen können. Da ist nichts refüsiert; das eben Emportauchende macht seine Wirkung geltend, ohne auf den Eindruck eines Vorher oder Nachher Rücksicht zu nehmen, lichtsammelnde und sparende Gegensätze werden als Effektmacherei verworfen, an Ruhepunkte zur Erleichterung der Auffassung ist nicht zu denken, und so rollt denn die ganze Komposition (!) als ein unentwirrbares Chaos belästigender Schönheiten um ihre eigene Achse, und der Leser (denn bis zum Zuseher gelangt derlei selten) weiß sich nicht anders Rat als den Knäuel hinzulegen, um sich zu besinnen und Kraft zu sammeln; wo ihm denn keine Ahnung beikömmt, daß wenn er sich nun orientiert und fortfährt, er kein Drama mehr mitlebt, sondern ein Buch liest.

Die Deutschen können nicht komponieren. Was in Frankreich der letzte Skribler (bei allen Mängeln des Inhaltes) kann, ist in Deutschland höchstens die Gabe weniger.

So war es aber nicht immer. Unsere großen Dichter verstanden zu komponieren, und es gab eine Zeit wo es auch die Mittelmäßigen konnten. Was hat also in neuerer Zeit die Deutschen für die Anforderungen der dramatischen Kunst weniger tauglich gemacht?

Das sei der Inhalt des zweiten Teils meiner Predigt.

[1834][691]


[Fortsetzung]

(Der in der ersten Nummer dieser Zeitschrift begonnene, und allerdings über die Gebühr verspätete Aufsatz unter obigem Titel, gedieh bis auf die Frage:) was für Erscheinungen haben in Deutschland während der neueren und neuesten Zeit Platz gegriffen, um das Gelingen dramatischer Kompositionen noch mehr zu erschweren, als dies bereits früher der Fall war?

Die hieher gehörigen Erscheinungen lassen sich, so manigfach sie sind, vielleicht auf folgende beiden Hauptpunkte bringen:

Mißbrauch der Gelehrsamkeit und Mißachtung der Rechte des Publikums.

Die Gelehrsamkeit, oder wenn man will Belesenheit, so schätzbar sie an sich, und so förderlich sie für alle Seiten des menschlichen Erkennens, ja Vollbringens ist, hat doch auch mitunter hemmende Einflüsse, und diese äußerten sich in Bezug auf unsern Gegenstand:

1. In Gestalt der Ideologie.

Die deutsche Philosophie hatte kaum durch Kant ihre große Umwälzung vollbracht, und in ihren ersten Ausbildungs-Formen Bestand und Platz gewonnen, als sie auch, ziemlich revolutionär anfing, ihre Usurpationen über benachbartes und weltfremdes Gebiet auszudehnen. – Wobei jedoch vor allem Kant selbst ausgenommen werden muß. Nie hat ein Philosoph aneignender über die Vorfragen der Kunst gesprochen als er, und wenn, was er sagte, nicht künstlerisch förderlicher war, so liegt die Ursache nur darin, daß aus dem Standpunkte der Philosophie die Kunst überhaupt nicht zu fördern ist. – Damals also, wo man Prinzipien für alles auffand, ging, wie natürlich, die Kunst auch nicht leer aus. Das Schöne war apriorisch erwiesen, die Kunstformen desgleichen, so daß, wenn sie zufällig verloren gegangen wären, man sie augenblicklich aus freier Faust wieder hätte erfinden können. Große Schubfächer wurden gezimmert für die Hervorbringungen aller Zeiten; da mußten sie unterkriechen, und was für das eine Schubfach als Grundwahrheit galt, war für das andere grundfalsch, als ob der Unterschied zwischen Mensch und Mensch in allen Lagen und Zeiten weiß Gott wie groß wäre. Dem gesamten Altertum ward als Marionettendraht die Schicksalsidee beigegeben und Atriden und Labdakiden mußten sich abmartern,[692] bloß um den breitgetretenen Heischesatz: daß niemand seiner Bestimmung entgehen könne, beispielsweise einzuschärfen. Der Chor war der idealisierte Zuseher, auch da wo er Mitspielender, auch da wo er Hauptperson, auch da wo er einseitiger befangen ist, als der Zuseher selbst. Was nun, obschon man es mit der Konsequenz nicht sehr genau nahm – durchaus der Anwendung widerstrebte, ward als unwürdig und schlecht ausgeschieden; wie denn Euripides, einem schlechtbestandenen Schüler gleich, bis auf diesen Tag mit dem schwarzen Täfelchen herum geht.

Mit dem Schubfach für die neuere Zeit ging das nicht so leicht an. Daß namentlich das Tragische im Kampfe der Freiheit mit der Notwendigkeit liege, darüber war man bald einig, nur darüber nicht, ob der Freiheit oder ihrer Gegnerin der Sieg bleiben solle. Ein kleiner Unterschied, wie man sieht. Statt eines allgemeinen Prinzips ward daher jeder einzelnen Hervorbringung ein besonderes zugewiesen, eine Schulidee, deren Versinnlichung die Aufgabe des Kunstwerkes sein sollte; ein Satz, und zwar kein moralischer – worauf hingearbeitet zu haben man den Vorgängern sehr übel nahm – sondern womöglich ein theoretisch-dogmatischer, was weniger veraltet, dafür aber bedeutend lächerlicher war. Fand das schon unter der Herrschaft der kritischen Philosophie statt, so ward der Drang noch heftiger, nachdem durch Beimischung von Gefühls- und Phantasie-Elementen die Philosophie selbst eine Art Poesie geworden war, wo man denn, um doch auch eine Philosophie zu haben, gern die Poesie dazu gemacht hätte.

Entstünde nun die Frage: ob man überhaupt Ideen an die Spitze dramatischer Hervorbringungen stellen solle? so wäre die Antwort: warum nicht, wenn man sich einer so gewaltig lebendig machenden Kraft bewußt ist, als z.B. Calderon. Sonst haben aber die großen Dichter meistens den Gang der Natur zum Muster genommen, die Ideen anregt, aber vom lebendigen Faktum ausgeht.

Auch müßte jederzeit der Unterschied zwischen philosophischer und poetischer Idee im Auge behalten werden, von denen – die erste auf einer Wahrheit beruht, die zweite auf einer Überzeugung. Denn es ist die Aufgabe der Philosophie die Natur zur[693] Einheit des Geistes zu bringen; das Streben der Kunst, in ihr eine Einheit für das Gemüt herzustellen.

Die hier bezeichnete Richtung der sogenannten Kunstphilosophie hatte ein so allgemeines Erlahmen jeder Produktionskraft zur Folge, daß sie sich unmöglich lange halten konnte. Sie ist im Ganzen aufgegeben, und spukt nur noch unter dem rezensierenden Troß, wenn er seine Sachunkenntnis hinter Worten verschanzen will.

Länger, und bis auf unsere Tage nachwirkend dauerte die zweite Ausgeburt falsch angewendeter Gelehrsamkeit: Übertreibung der Forderungen an die Produktion.

Hatte man sich in früherer Zeit mit der Kenntnis der ewigen Alten und etwas förmlichen Franzosentum begnügt, so entstand unmittelbar vor und mit dem neuen Jahrhundert plötzlich eine Entdeckungswut unbekannter Regionen, den portugiesisch-spanischen Ost- und Westindienzügen vergleichbar. Mit nicht genug zu preisendem Eifer ward Shakespeare den Deutschen näher gebracht, und eine neue Welt tat sich auf, als Calderon seine ersten Strahlen durchs weichende Gewölk herübersandte. Die klassische Welt, bisher ausschließliches Eigentum der Gelehrten, ward durch Übersetzung Gemeingut für alle. Was man den Römern entzog, häufte man um desto überschwänglicher auf die Griechen; und im schwindelnden Wirbeltanze drehten sich Kunst-Vollkommenheiten und Meisterwerke um den staunenden Lehrling. Aber durch einen leichtbegreiflichen Irrtum vergaß man, daß was so mit einem Male und in einem Maße die nächste Nähe vereinigte, in der Wirklichkeit durch Länder und Meere, durch Völker und Jahrhunderte getrennt war.

Weil man das alles wußte, glaubte man sich zu der Forderung berechtigt, das alles zu können, und Shakespeare und Sophokles wurden als Wegsäulen und Meilenzeiger hingestellt, indes sie Sterne sind, nach denen man aus unendlicher Entfernung allenfalls seinen Lauf einrichten kann. Das Gute erschien klein im Vergleich mit jenen ewigen Heroen, und das Dankenswert-Annehmbare schrumpfte zum Atome ein im Entgegenhalt eines Maßstabes, dessen Grade Volksbildungen waren und dessen Ganzmaß die Kultur des Menschengeschlechtes.

Daß nun niemand erreichen konnte was gefordert ward, setzte[694] die Fordernden scheinbar hoch hinauf über die nach Erfüllung Strebenden, d.h. die Kritik über die Produktion, was allemal und jederzeit ein sicheres Zeichen des Verfalles der Kunst war.

Ja selbst ein Teil des Publikums fand die dauernde Stellung auf den unfruchtbaren Höhen des Überschwänglichen lohnender für das Selbstgefühl, als die Unterordnung, die jeder übernimmt, der einen Eindruck auf sich wirken läßt, und der Dichter fand ablehnende Grübler, wo er dankbare Zuhörer vorausgesetzt hatte.

All diese Verkehrtheit wäre noch zu ertragen gewesen, ohne die notwendige Rückwirkung, die dieses Hetzen und Drängen endlich auf die Produzierenden selbst ausüben mußte. Über all dem Vermeiden und sich Hüten ward die Aufgabe des Dichters zuletzt halb negativ. Um doch einigermaßen zu wirken, mußte sich jeder mit einem solchen Apparat, einem solchen Rüsthaus von Offensiv- und Defensiv-Waffen beladen, daß unter ihrem Gewicht kein freier Schritt mehr möglich war. Jedes Vornehmen ging so ins Ungeheure und Weite, daß das Kontinuum zur innern Ausfüllung ermangelte. Das natürlich Genießbare verschwand, und man sah nichts mehr als verunglückte Meisterstücke.

Der Schreiber dieses Aufsatzes läßt das alles gern auf sich und seine eigenen Werke anwenden. Er wollte nicht diesen oder den tadeln, sondern die Richtung einer Zeit, zu der er auch gehört. Man mag sich verwahren wie man will: ist einmal derlei in der Luft, so saugt jeder seinen Teil davon beim Atemholen ein.

In letzter Ausbildung gedieh diese Richtung – was entsetzlich zu sagen ist – bis zur Verfälschung des Gefühls.

Kenntnisse und Wahrheiten werden von Geschlecht zu Geschlecht fortgepflanzt, und der wäre ein Tor, der sich keine andere Bildung aneignen wollte, als die er selbst aus sich selbst gefunden. Das eben unterscheidet den Menschen von den übrigen Naturwesen, daß der späte Enkelsohn weiterbildend fortsetzt, was der Urahn dunkelahnend begonnen; indes der Sprößling des am besten abgerichteten Tieres genau von demselben Punkte wieder anfangen muß, von dem sein gelehrter Vorfahr gleichmäßig ausging: Das Palladium der Geistesbildung ist die ungehinderte Mitteilung. Das Gefühl dagegen ist der Ausdruck der besondern Existenz des einzelnen; es stirbt mit jedem, und wird mit jedem neu geboren. Ich kann ebensowenig das Gefühl eines andern[695] annehmen, als die Person mit ihm tauschen, und die eigne Art zu fühlen aufgeben heißt so viel als seine Individualität verleugnen, sich als Mensch vernichten.[696]

Quelle:
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke.Band 3, München [1960–1965], S. 304,697.
Entstanden 1835, Erstdruck in: Blätter für Literatur, Kunst, Kritik (Wien), 1835.
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