4. Anordnung der Sammlung

[12] Auch bei Anordnung der einzelnen Sagen haben wir am liebsten der Spur der Natur folgen wollen, die nirgends steife und offenliegende Grenzen absteckt. In der Poesie gibt es nur einige allgemeine Abteilungen, alle andern sind unrecht und zwängen, allein selbst jene großen haben noch ihre Berührung und greifen ineinander über. Der Unterschied zwischen Geschichte, Sage und Märchen gehört nun offenbar zu den erlaubten[12] und nicht zu versäumenden; dennoch gibt es Punkte, wo nicht zu bestimmen ist, welches von dreien vorliege, wie zum Beispiel Frau Holla in den Sagen und Märchen auftritt oder sich ein sagenhafter Umstand auch einmal geschichtlich zugetragen haben kann. In den Sagen selbst ist nur noch ein Unterschied, nach dem eine äußerliche Sammlung zu fragen hätte, anerkannt worden; der nämlich, wonach wir die mehr geschichtlich gebundenen von den mehr örtlich gebundenen trennen und jene für den zweiten Teil des Werks zurücklegen. Die Ortssagen aber hätten wiederum nach den Gegenden, Zeiten oder dem Inhalt abgeteilt werden mögen. Eine örtliche Anordnung würde allerdings gewisse landschaftliche Sagenreihen gebildet und dadurch hin und wieder auf den Zug, den manche Art Sagen genommen, gewiesen haben. Allein es ist klar, daß man sich dabei am wenigsten an die heutigen Teilungen Deutschlands, denen zufolge zum Beispiel Meißen Sachsen, ein großer Teil des wahren Sachsens aber Hannover genannt, im kleinen, einzelnen noch viel mehr untereinander gemengt wird, hätte halten dürfen. War also eine andere Einteilung, nicht nach Gebirgen und Flüssen, sondern nach der eigentlichen Richtung und Lage der deutschen Völkerstämme, unbekümmert um unsere politischen Grenzen, aufzustellen, so ist hierzu so wenig Sicheres und Gutes vorgearbeitet, daß gerade eine sorgsamere Prüfung der aus gleichem Grund verschmähten und versäumten Mundarten und Sagen des Volks erst muß dazu den Weg bahnen helfen. Was folglich aus der Untersuchung derselben künftig einmal mit herausgehen dürfte, kann vorläufig jetzo noch gar nicht ihre Einrichtung bestimmen. Ferner: Im allgemeinen einigen Sagen vor den andern höheres Alter zuzuschreiben möchte großen Schwierigkeiten unterworfen und meistens nur ein mißverständlicher Ausdruck sein, weil sie sich unaufhörlich wiedergebären. Die Zwerg- und Hünensagen haben einen gewissen heidnischen Anstrich voraus, aber in den so häufigen von den Teufelsbauten brauchte man bloß das Wort Teufel mit Thurst oder Riese zu tauschen oder ein andermal bei dem Weibernamen Jette sich nur der alten Jöten (Hünen) gleich zu erinnern, um auch solchen Erzählungen ein Ansehen zu leihen, das also noch in andern Dingen außer den Namen liegt. Die Sagen von Hexen und Gespenstern könnte man insofern[13] die neuesten nennen, als sie sich am öftersten erneuern, auch, örtlich betrachtet, am lockersten stehen; inzwischen sind sie im Grund vielmehr nur die unvertilglichsten, wegen ihrer stetigen Beziehung auf den Menschen und seine Handlungen, worin aber kein Beweis ihrer Neuheit liegt. Es bewiese lediglich, daß sie auch alle anderen überdauern werden, weil die abergläubische Neigung unseres Gemüts mehr Gutes und Böses von Hexen und Zauberern erwartet als von Zwergen und Riesen; weshalb merkwürdigerweise gerade jene Sagen sich beinahe allein noch aus dem Volk Eingang unter die Gebildeten machen. Diese Beispiele zeigen hinlänglich, wie untunlich es gewesen wäre, nach dergleichen Rücksichten einzelne Sagen chronologisch zu ordnen, zudem fast in jeder die verschiedensten Elemente lebendig ineinander verwachsen sind, welche demnächst erst eine fortschreitende Untersuchung, die nicht einmal bei der Scheidung einzelner Sagen stehenbleiben darf, sondern selbst aus diesen wiederum Kleineres heraussuchen muß, in das wahre Licht setzen könnte. Letzterer Grund entscheidet endlich auch ganz gegen eine Anordnung nach dem Inhalt, indem man zum Beispiel alle Zwergsagen oder die von versunkenen Gegenden und so weiter unter eigene Abschnitte faßte. Offenbar würden bloß die wenigsten einen einzigen dieser Gegenstände befassen, da vielmehr in jeder mannigfaltige Verwandtschaften und Berührungen mit andern anschlagen. Daher uns bei weitem diejenige Anreihung der Sagen am natürlichsten und vorteilhaftesten geschienen hat, welche, überall mit nötiger Freiheit und ohne viel herumzusuchen, unvermerkt auf einige solcher geheim und seltsam waltenden Übergänge führt. Dieses ist auch der notwendig noch überall lückenhaften Beschaffenheit der Sammlung angemessen. Häufig wird man also in der folgenden eine deutliche oder leise Anspielung auf die vorhergehende Sage finden; äußerlich ähnliche stehen oft beisammen, oft hören sie auf, um bei verschiedenem Anlaß anderswo im Buch von neuem anzuheben. Unbedenklich hätten also noch viele andere Ordnungen derselben Erzählungen, die wir hier mitteilen, insofern man weitere Beziehungen berücksichtigen wollte, versucht werden können, alle aber würden doch nur geringe Beispiele der unerschöpflichen Triebe geben, nach denen sich Sage aus Sage und Zug aus Zug in dem Wachstum der Natur gestaltet.[14]

Quelle:
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsche Sagen. Zwei Bände in einem Band. München [1965], S. 12-15.
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