128. Die Müllerin

[158] Zwischen Ems und Wels in Österreich auf einer einsamen Mühle lebte ein Müller, der war an einem Sonntagmorgen, nach üblicher Weise, mit allen seinen Knechten in die Kirche gegangen und nur seine Frau, die ihre Niederkunft bald erwartete, daheim geblieben. Als die Müllerin so allein saß, kam die Hebamme, gleichsam zu Besuch, zu sehen, wie es mit ihr stehe. Die Müllerin war ihr freundlich, trug etwas auf, und sie setzten sich zusammen an den Tisch. Während sie aßen, ließ die Hebamme das Messer fallen und sprach: »Hebt mir einmal das Messer auf!« – »Ei!« antwortete die Müllerin, »Ihr redet wunderlich, Ihr wißt doch, daß mir das Bücken saurer wird als Euch«, doch ließ sie's hingehen, hob das Messer auf, reichte es ihr, und wie sie es reichte, noch im Bücken, faßte die Hebamme das Messer in die Faust, zückte und sprach: »Nun gebt mir Euer Geld, das bar bei Euch liegt, oder ich stech Euch die kalte Klinge in die Brust!« Die Müllerin erschrak, faßte sich aber und sagte: »Kommt mit mir hinüber in die Kammer, da liegt im Schrank, was wir haben, und nehmt's.« Die Hebamme folgte ihr, nahm das Geld aus dem Schrank, und weil es ihrer Habsucht nicht genug war, suchte sie noch weiter in andern Gefächern. Diesen Augenblick benutzte die Müllerin, trat schnell hinaus und schloß die Türe fest zu, und da vor den Fenstern starke eiserne Gitter standen, so war die Hebamme in der Kammer eingefangen. Nun rief die Frau ihr siebenjähriges Söhnlein und sprach: »Eil dich und lauf zum Vater in die Kirche, ich bät ihn, eilends mit[158] seinen Knechten heimzukommen, ich wär in großer Gefahr.« Das Kind lief fort, aber nicht weit von der Mühle traf es auf den Mann der Hebamme, der verabredetermaßen kam, den Raub fortzutragen. Als er das Kind sah, faßte er's und riß es mit sich zur Mühle zurück. Die Müllerin, die, ihren Mann erwartend, am Fenster stand, sah ihn kommen, verschloß alsbald die Haustüre und schob alle Riegel vor. Als der Mann heran war, rief er, sie sollte ihm öffnen, und da sie es nicht tat, stieß er wütend dagegen und hoffte sie einzutreten. Die Müllerin schrie nun mit allen Kräften zu einem Fenster hinaus nach Hilfe, aber weil die Mühle zu fern, auch mit Gebüsch umwachsen lag, ward sie von niemand gehört. Indes wich die Tür den Stößen des Mannes nicht, und da er sah, in welche Gefahr er und seine Frau gerate, wenn er sich so lang aufhalte, bis der Müller aus der Kirche käme, zog er sein Messer und rief der Müllerin: »Wo Ihr nicht gleich öffnet, so stech ich das Kind vor Euern Augen nieder und zünde die Mühle Euch über dem Kopf an;« faßte auch das Kind, daß es laut zu schreien anfing. Da eilte die Müllerin und wollte die Tür öffnen, aber wie sie davorstand, ging ihr der Gedanke durchs Herz, daß der Mörder sie nur herauslocken wolle, um sie selbst und mit ihr das Kind in ihrem Leibe zu töten, so daß sie ein paar Augenblicke schwankte. Der Mann zauderte nicht, stach dem Knaben das Messer in die Brust, lief dann um die Mühle und suchte einen Eingang. Da fiel der Müllerin, die von dem allen nichts wußte, ein, sie wollte die Räder in Bewegung setzen, vielleicht lockte das am Sonntag ungewöhnliche Klappern Menschen zu ihrer Hilfe herbei. Der Mörder aber wollte gerade durch das stehende Rad in die Mühle eindringen, hatte eben den Fuß auf eine Speiche gesetzt und wär ohne Zweifel hineingeschlüpft, als in dem nämlichen Augenblick, nach Gottes wundervoller Schickung, das losgelassene Rad anhub sich zu drehen, ihn hinunterschlug und jämmerlich zermalmte.

Bald darauf kam der Müller mit seinen Knechten heim. Als er die Kammer aufschloß, worin die Hebamme gefangen war, lag sie tot auf der Erde und war vor Angst und Schrecken vom Schlag gerührt.[159]

Quelle:
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsche Sagen. Zwei Bände in einem Band. München [1965], S. 158-160.
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