176. Geisterkirche

[198] Um das Jahr 1516 hat sich eine wunderbare, doch wahrhaftige Geschichte in St.-Lorenz-Kirche und auf desselben Kirchhof zugetragen. Als eine andächtige, alte, fromme Frau ihrer Gewohnheit nach einsmals frühmorgens vor Tag hinaus gen[198] St. Lorenz in die Engelmesse gehen wollen, in der Meinung, es sei die rechte Zeit, kommt sie um Mitternacht vor das obere Tor, findet es offen und geht also hinaus in die Kirche, wo sie dann einen alten, unbekannten Pfaffen die Messe vor dem Altar verrichten sieht. Viele Leut, mehrersteils unbekannte, sitzen hin und wieder in den Stühlen zu beiden Seiten, einesteils ohne Kopf, auch unter denselben etliche, die unlängst verstorben waren und die sie in ihrem Leben wohlgekannt hatte.

Das Weib setzt sich mit großer Furcht und Schrecken in der Stühle einen und, weil sie nichts denn verstorbene Leute, bekannte und unbekannte, siehet, vermeint, es wären der Verstorbenen Seelen; weiß auch nicht, ob sie wieder aus der Kirche gehen oder drinnen bleiben soll, weil sie viel zu früh kommen war, und Haut und Haar ihr zu Berge steigen. Da geht eine aus dem Haufen, welche bei Leben, wie sie meinte, ihre Gevatterin gewesen und vor dreien Wochen gestorben war, ohne Zweifel ein guter Engel Gottes, hin zu ihr, zupfet sie bei der Kursen (Mantel), beutet ihr einen guten Morgen und spricht: »Ei, liebe Gevatterin, behüt uns der allmächtige Gott, wie kommt Ihr daher? Ich bitte Euch um Gottes und seiner lieben Mutter willen, habt eben acht auf, wann der Priester wandelt und segnet, so laufet, wie Ihr laufen könnt, und sehet Euch nur nicht um, es kostet Euch sonst Euer Leben.« Darauf sie, als der Priester wandeln will, aus der Kirche geeilet, sosehr sie gekonnt, und hat hinter ihr ein gewaltig Prasseln, als wann die ganze Kirche einfiele, gehöret, ist ihr auch alles Gespenst aus der Kirche nachgelaufen und hat sie noch auf dem Kirchhof erwischt, ihr auch die Kursen (wie die Weiber damals trugen) vom Hals gerissen, welche sie dann hinter sich gelassen, und ist sie also unversehret davonkommen und entronnen. Da sie nun wiederum zum obern Tor kommt und herein in die Stadt gehen will, findet sie es noch verschlossen, dann es etwa um ein Uhr nach Mitternacht gewesen: mußt derowegen wohl bei dreien Stunden in einem Haus verharren, bis das Tor geöffnet wird, und kann hieraus vermerken, daß kein guter Geist ihr zuvor durch das Tor geholfen habe und daß die Schweine, die sie anfangs vor dem Tor gesehen und gehört, gleich als wenn es Zeit wäre, das Vieh auszutreiben, nichts anders dann der leidige Teufel gewesen.[199] Doch weil es ein beherztes Weib ohnedas gewesen und sie dem Unglück entgangen, hat sie sich des Dings nicht mehr angenommen, sondern ist zu Haus gegangen und am Leben unbeschädigt blieben, obwohl sie wegen des eingenommenen Schreckens zwei Tag zu Bett hat liegen müssen. Denselben Morgen aber, da ihr solches zuhanden gestoßen, hat sie, als es nun Tag worden, auf den Kirchhof hinausgeschicket und nach ihrer Kursen, ob dieselbe noch vorhanden, umsehen und suchen lassen; da ist dieselbe zu kleinen Stücklein zerrissen gefunden worden, also daß auf jedem Grabe ein kleines Flecklein gelegen, darob sich die Leut, die haufenweis derohalben hinaus auf den Kirchhof liefen, nicht wenig wunderten.

Diese Geschichte ist unsern Eltern sehr wohl bekannt gewesen, da man nicht allein hie in der Stadt, sondern auch auf dem Land in den benachbarten Orten und Flecken davon zu sagen gewußt, wie dann noch heutigestags Leute gefunden werden, die es vor der Zeit von ihren Eltern gehört und vernommen haben. –

Nach mündlichen Erzählungen hat es sich in der Nacht vor dem Allerseelentag zugetragen, an welchem die Kirche feierlich das Gedächtnis der abgeschiedenen Seelen begeht. Als die Messe zu Ende ist, verschwindet plötzlich alles Volk aus der Kirche, so voll sie vorher war, und sie wird ganz leer und finster. Sie sucht ängstlich den Weg zur Kirchentür, und wie sie heraustritt, schlägt die Glocke im Turm ein Uhr, und die Türe fährt mit solcher Gewalt gleich hinter ihr zu, daß ihr schwarzer Regenmantel eingeklemmt wird. Sie läßt ihn, eilt fort, und als sie am Morgen kommt, ihn zu holen, ist er zerrissen, und auf jedem Grabhügel liegt ein Stücklein davon.

Quelle:
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsche Sagen. Zwei Bände in einem Band. München [1965], S. 198-200.
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