412. Walter im Kloster

[378] Nachdem er viele Kriegstaten in der Welt verrichtet hatte und hochbejahrt war, dachte Held Walter seiner Sünden und nahm sich vor, durch ein strenges, geistliches Leben die Verzeihung des Himmels zu erwerben. Sogleich suchte er sich einen Stab aus, ließ oben an die Spitze mehrere Ringe und in jeden Ring eine Schelle heften; darauf zog er ein Pilgrimkleid an und durchwanderte so fast die ganze Welt. Er wollte aber die Weise und Regel aller Mönche genau erforschen und ging in jedes Kloster ein; wenn er aber in die Kirche getreten war, pflegte er zwei- oder dreimal mit seinem Stabe hart auf den Boden zu stoßen, daß alle Schellen klangen; hierbei prüfte er nämlich den Eifer des Gottesdienstes. Als er nun einmal in das Kloster Novalese gekommen war, stieß er auch hier seiner Gewohnheit nach den Pilgerstab hart auf den Boden. Einer der Kirchenknaben drehte sich um, rückwärts, um zu sehen, was so erklänge; alsbald sprang der Schulmeister zu und gab dem Zögling eine Maulschelle. Da[378] seufzte Walter und sprach: »Nun bin ich schon lange und viele Tage durch die Welt gewandert und habe dergleichen nicht finden können.« Darauf meldete er sich bei dem Abt, bat um Aufnahme ins Kloster und legte das Kleid dieser Mönche an; auch wurde er nach seinem Willen zum Gärtner des Klosters bestellt. Er nahm zwei lange Seile und spannte sie durch den Garten, eins der Länge und eins der Quere nach; in der Sommerhitze hing er alles Unkraut darauf, die Wurzeln gegen die Sonne, damit sie verdörren und nicht wieder lebendig werden sollten1.

Es war aber in dem Kloster ein hölzerner Wagen, überaus schön gearbeitet, auf den man nichts anders legte als eine große, oben mit einer hell lautenden Schelle versehene Stange. Diese Stange wurde zuweilen aufgesteckt, so daß sie jedermann sehen und den Klang hören konnte. Alle Höfe und Dörfer des Klosters hatten nun auch ihre Wagen, auf denen die Mönche Dienstleute Korn und Wein zufuhren; jener Wagen mit der Stange fuhr dann voraus, und hundert oder fünzig andere Wagen folgten nach, und jedermann erkannte daran, daß der Zug dem berühmten Kloster Novalese gehörte. Und da war kein Herzog, Graf, Herr oder Bauer, der gewagt hätte, ihn zu beschädigen; ja, die Kaufleute auf den Jahrmärkten sollen ihren Handel nicht eher eröffnet haben, als bis sie erst den Schellenwagen heranfahren sahen. Als diese Wagen einmal beladen zum Kloster zurückkehrten, stießen sie auf des Königs Leute, welche die königlichen Pferde auf einer Wiese weideten. Diese sahen kaum soviel Güter ins Kloster fahren, als sie übermütig darauf herfielen und alles wegnahmen. Die Dienstleute widersetzten sich vergeblich, ließen aber, was geschehen war, augenblicklich dem Abt und den ganzen Brüdern kundtun. Der Abt versammelte das ganze Kloster und berichtete die Begebenheit. Der Vorsteher der Brüderschaft war damals einer namens Asinarius, von Herkunft ein Franke, ein tugendhafter, verständiger Mann. Dieser, auf Walters Rat, man müsse zu den Räubern kluge Brüder absenden und ihnen die Sache gehörig darstellen lassen, sagte sogleich: »So sollst du, Walter, schnell dahin gehen, denn wir haben keinen klügeren, weiseren Bruder.« Walter aber,[379] der sich wohl bewußt war, er werde den Trotz und Hochmut jener Leute nicht ertragen können, versetzte: »Sie werden mir mein Mönchskleid ausziehen.« – »Wenn sie dir dein Kleid ausziehen«, sprach Asinarius, »so gib ihnen noch die Kutte dazu und sag, also sei dir's von den Brüdern befohlen.« Walter sagte: »Wie soll ich mit dem Pelz und Unterkleid verfahren?« – »Sag«, versetzte der ehrwürdige Vater, »es sei von den Brüdern befohlen worden, sich auch diese Stücken nehmen zu lassen.« Darauf setzte Walter hinzu: »Zürne mir nicht, daß ich weiterfrage, wenn sie auch mit den Hosen tun wollen wie mit dem übrigen?« – »Dann«, antwortete der Abt, »hast du deine Demut schon hinlänglich bewiesen; denn in Ansehung der Hosen kann ich dir nicht befehlen, daß du sie ihnen lassest.«

Hiermit war Walter zufrieden, ging hinaus und fragte die Klosterleute, ob hier ein Pferd wäre, auf dem man im Notfall einen Kampf wagen dürfe. »Es sind hier gute, starke Karrengäule«, antworteten jene. Schnell ließ er sie herbeiführen, bestieg einen und spornte ihn und dann einen zweiten, verwarf sie aber beide und nannte ihre Fehler. Dann erinnerte er sich eines guten Pferdes, das er einst mit ins Kloster gebracht habe, und frug, ob es noch lebendig wäre. »Ja, Herr«, sagten sie, »es lebt noch, ist aber ganz alt und dient bei den Bäckern, denen es täglich Korn in die Mühle trägt und wiederholt.« Walter sprach: »Führt es mir vor, damit ich es selber sehe.« Als es herbeigebracht wurde und er daraufgestiegen war, rief er aus: »Oh, dieses Roß hat die Lehren noch nicht vergessen, die ich ihm in meinen jungen Jahren gab.« Hierauf beurlaubte sich Walter von dem Abt und den Brüdern, nahm nur zwei oder drei Knechte mit und eilte zu den Räubern hin, die er freundlich grüßte und ermahnte, von dem Unrecht abzustehn, das sie den Dienern Gottes zugefügt hätten. Sie aber wurden desto zorniger und aufgeblasener und zwangen Waltern, das Kleid auszuziehen, welches er trug. Geduldig litt er alles und sagte, daß ihm so befohlen worden sei. Nachdem sie ihn ausgezogen hatten, fingen sie an, auch seine Schuhe und Schienen aufzulösen; bis sie an die Hosen kamen, sprach Walter: das sei ihm nicht befohlen. Sie aber antworteten, was die Mönche befohlen hätten, daran wäre ihnen gar nichts gelegen. Walter hingegen sagte, ihm stehe[380] das auch nicht länger an; und wie sie Gewalt brauchen wollten, machte er unvermerkt seinen Steigbügel los und traf damit einen Kerl solchergestalt, daß er für tot niedersank, ergriff dessen Waffen und schlug damit rechts und links um sich. Darnach schaute er und sah neben sich ein Kalb auf dem Grase weiden, sprang zu, riß ihm ein Schulterblatt aus und schlug damit auf die Feinde los, welche er durch das ganze Feld hintrieb. Einige erzählen, Walter habe demjenigen, der sich am frechsten erzeigt und gerade gebückt habe, um ihm die Schuhe abzubinden, mit der Faust einen solchen Streich über den Hals versetzt, daß ihm das zerbrochene Halsbein sogleich in den Schlund gefallen sei. Als er nun viele erschlagen hatte, machten sich die übrigen auf die Flucht und ließen alles im Stich. Walter aber bemächtigte sich nicht nur des eigenen, sondern auch des fremden Gutes und kehrte mit reicher Beute beladen ins Kloster zurück.

Der Abt empfing ihn seufzend und schalt ihn heftig aus; Walter aber ließ sich eine Buße auflegen, damit er sich nicht leiblich über eine solche Tat freuen möge, die seiner Seele verderblich war. Er soll indessen, wie einige versichern, dreimal so mit den einbrechenden Heiden gekämpft und sie schimpflich von den Gefilden des Klosters zurückgetrieben haben.

Ein andermal fand er die Pferde Königs Desiderius auf der Klosterwiese, namens Mollis (Molard), weiden und das Gras verwüsten, verjagte die Hüter und erschlug viele derselben. Auf dem Rückwege, vor Freude über diesen Sieg, schlug er mit geballter Faust zweimal auf eine neben dem Weg stehende steinerne Säule und hieb das größte Stück davon herunter, daß es zu Boden fiel. Daselbst heißt es bis auf heutigen Tag noch Walters Schlag oder Hieb (percussio vel ferita Waltharii).

Dieser berühmte Held Graf Walter starb uralt im Kloster, wo er sich selbst noch sein Grab auf einem Berggipfel sorgfältig gehauen hatte. Nach seinem Ableben wurde er und Rathald, sein Enkel, hineinbestattet. Dieser Rathald war der Sohn Rathers, des Sohnes Walters und Hildgundens. Des Rathalds Haupt hatte einst eine Frau, die Betens halber zu der Grabstätte gekommen war, heimlich mitgenommen und auf ihre Burg gebracht. Als eines Tages Feuer in dieser Burg ausbrach,[381] erinnerte sie sich des Hauptes, zog es heraus und hielt es der Flamme entgegen. Alsobald erlosch die Feuersbrunst. Nach dem letzten Einbruch der Heiden, und bevor der heilige Ort wiedererbaut wurde, wußte niemand von den Einwohnern mehr, wo Walters Grab war. Dazumal lebte in der Stadt Segusium eine sehr alte Witwe namens Petronilla, gebückt am Stabe einhergehend und wenig mehr sehend aus ihren Augen. Dieser hatten die Heiden ihren Sohn Maurinus gefangen weggeführt, und über dreißig Jahre mußte er bei ihnen dienen. Endlich aber erlangte er die Freiheit und wanderte in seine Heimat zurück. Er fand seine Mutter vom Alter beinahe verzehrt. Sie pflegte sich täglich auf einem Felsen bei der Stadt an der Sonne zu wärmen, und die Leute gingen oft zu ihr und fragten nach den Altertümern; sie wußte ihnen mancherlei zu erzählen, zumal vom novalesischen Kloster, viele unerhörte Dinge, die sie teils noch gesehen, teils von ihren Eltern vernommen hatte. Eines Tages ließ sie sich wiederum von einigen Männern herumführen, denen wies sie Walters Grab, das man nicht mehr kannte, so wie sie es von ihren Vorfahren gehört hatte; wiewohl ehemals keine Frau gewagt hätte, diese Stätte zu betreten. Auch verzählte sie, wieviel Brunnen ehemals hier gewesen. Die Nachbarsleute behaupteten, gedachte Frau sei beinahe zweihundert Jahre alt geworden.

Fußnoten

1 Vergl. Meister Stolle (hinter Tristan, S. 147, No. IX).


Quelle:
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsche Sagen. Zwei Bände in einem Band. München [1965], S. 378-382.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Deutsche Sagen
Deutsche Sagen
Deutsche Sagen
Deutsche Sagen (insel taschenbuch)
Deutsche Sagen
Deutsche Sagen: Herausgegeben von den Brüdern Grimm

Buchempfehlung

Wette, Adelheid

Hänsel und Gretel. Märchenspiel in drei Bildern

Hänsel und Gretel. Märchenspiel in drei Bildern

1858 in Siegburg geboren, schreibt Adelheit Wette 1890 zum Vergnügen das Märchenspiel »Hänsel und Gretel«. Daraus entsteht die Idee, ihr Bruder, der Komponist Engelbert Humperdinck, könne einige Textstellen zu einem Singspiel für Wettes Töchter vertonen. Stattdessen entsteht eine ganze Oper, die am 23. Dezember 1893 am Weimarer Hoftheater uraufgeführt wird.

40 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon