5.
Vber des Herrn leiche

[31] Ach weh! was seh' ich hier? ein außgesträckte leichen.

An der man von fuß auff nichts vnzerschlagen findt:

Die seit aus der das blutt mit vollen strömen rint

Die wangen so von schmertz in todes angst erbleichen.

Wer hatt dich so verletzt? Wer hatt mitt Geissel streichen

Gewüttet auff dis fleisch/ welch grimmes tygerkindt

Hatt hand hier angelegt/ als diese glieder sindt[31]

Mitt nägeln gantz durchbortt? Wehm sol ich den vergleichen

Der deine zartte stirn mitt dornen hat verschrenckt?

Wer hat mein bräutigamb mitt galle dich getränckt?

Ach! dis hatt deine lieb vnd meine schuld verübett.

Wehn diese liebe nicht zu wiederliebe zwingt?

Wehm dieses jammerbild nicht seel vnd geist durch dringt?

Ist würdig das er dort sey für vnd für betrübet.

Quelle:
Andreas Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Band 1, Tübingen 1963, S. 31-32.
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