64.
An Eugenien

[126] Ich lebe/ wo man den mit Recht kan lebend nennen/

Der sonder Geist verfällt in bitter-süsse Pein/

Die Seel ist ausser mir/ und sucht den Glantz allein

Der Augen/ die mir nur zu angenehme brennen/

Was kan in meiner Nacht ich als die Stern erkennen.

Holdseligst ihr Gesicht/ der Wunder-helle Schein/

Erleuchtet diß Gemüth/ das (geht die Welt schier ein)[126]

Kein Schwefel-lichter Blitz wird von dem Vorsatz trennen.

Lasset Nord und Wetter toben weil mir diese Rosen blühen/

Schreckt mich keiner Winter Rasen/ last die heisse Sonn entfliehen/

Mir ist die Abend-Lufft weit lieber als der Tag.

Ob die Zunge nicht mehr schwatzet/ die nie ein End-Urtheil spricht/

Treugt doch der entfärbten Wangen lieblich Abendröthe nicht.

Die redet nur zu wohl/ die schweigend reden mag.

Quelle:
Andreas Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Band 1, Tübingen 1963, S. 126-127.
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