30. Der Neidkopf in der Heiligengeiststraße.74

[43] An der Stelle des jetzigen stattlichen Gebäudes No. 38 der Heiligengeiststraße stand noch zu Anfange des vorigen Jahrhunderts ein kleines Häuschen, in dem ein Goldschmied, Namens Bergner, wohnte, der ein fleißiger, aber sehr armer Mann war. König Friedrich Wilhelm I., der es liebte, zu allen Tagesstunden, besonders aber Abends die Straßen Berlins zu durchwandeln und selbst aufs Recht zu sehen, namentlich aber die Faullenzer und Pflastertreter[43] seiner Residenz kennen zu lernen, hatte nun auch zu wiederholten Malen den fleißigen Goldschmied bei seiner Arbeit noch spät am Abend sitzen sehen und trat zuletzt einst selbst in seine Werkstatt, um zu hören, wie es ihm gehe. Da schenkte ihm aber derselbe reinen Wein ein und sagte, daß er sich gar sehr zu würgen habe, wenn er mit Ehren durch die Welt kommen wollte, weil es ihm unmöglich sey, in Ermangelung eines Arbeitsfonds etwas aufs Lager anfertigen zu können, da die bestellten Arbeiten in der Regel nur wenig lohnten. Der König, der ein großer Freund fleißiger Bürger war, beschloß ihm zu helfen und bestellte sofort ein reiches Service bei ihm, hieß ihn auch des andern Tages das dazu nöthige Metall in der Hofschatzkammer, sowie auch in der Hofcasse einen Vorschuß auf die Arbeit selbst in Empfang nehmen. Nach einigen Tagen kam der König wieder und sah, wie der Meister in der bestellten Arbeit fortschritt, und da ihn die Unterhaltung mit demselben Vergnügen machte, so kam er immer wieder, setzte sich zu ihm und sprach mit ihm über seine Arbeit und andere Dinge. Dabei aber sah er, daß, während er bei dem am Fenster arbeitenden Meister saß, an dem Fenster des gegenüber stehenden Hauses zwei häßliche Frauenzimmer lehnten, welche mit hämischen Gesichtern auf den Goldschmied herüberlugten. Auf das Befragen des Königs, wer diese Personen seyen, erfuhr er, es seyen die Töchter eines reichen Goldschmieds, welche aus Aerger darüber, daß der König die niedere Wohnung des armen Bergner mit seiner Anwesenheit beehrte, dem fleißigen Manne Fratzen zu schneiden pflegten.

Als nach einiger Zeit die bestellte Arbeit fertig war und dem Könige vorgelegt ward, bezeigte derselbe nicht allein dem fleißigen Arbeiter seine Zufriedenheit, sondern befahl ihm auch, er möge sich sobald wie möglich eine andere Wohnung suchen, er sey gesonnen, ihm an dieser Stelle ein neues Haus aufführen zu lassen. Es versteht sich von selbst, daß der glückliche Goldschmied, so schnell er konnte, dem Befehle seines gnädigen Herrn gehorsamte; der König, der bekanntlich eine ungemeine Lust zum Bauen hatte, führte auch sein Versprechen aus, gab aber Befehl, zwischen der zweiten und dritten Etage in der Mitte des neuen Hauses in einer Nische ein die Zunge herausblöckendes Frauenbild in Hautrelief auf Stein gehauen anzubringen, damit die häßlichen Weiber stets ihr Ebenbild vor Augen hätten. Dieses Bild erhielt vom Volke den Beinamen der Neidkopf und ward eins der Wahrzeichen der Residenz. Bergner's letzte Arbeit für den König soll übrigens ein Goldservice gewesen sein, das noch 1807 im Gebrauche des Hofes war, und an dem auf Königs Befehl Bergner die Fratzengesichter jener zwei Frauenzimmer in den Verzierungen wiederholt hatte anbringen müssen.

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Nach Al. Cosmar Bd. I. S. 14 (mit Abbildung), W. Schäfer in der Illustr. Zeitung 1858. S. 14. und Ziehnert Bd. II. S. 223.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 43-44.
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