113. Der tiefe Grund bei Glienicke.164

[108] Nach der Sage bewohnte einst die Gegend zwischen der Havel und Spree ein germanischer Volksstamm, die Sennonen. Sie verehrten Feuer und Erde, Sonne und Mond als Gottheiten und brachten ihnen in ihren dunkeln Hainen blutige Opfer. Da drangen die Slaven in die heutige Mark Brandenburg und drängten die germanischen Ureinwohner nach und nach bis in die Spree- und Oderbrüche zurück, welche jene aber mannhaft vertheidigten und lange Zeit behaupteten. Auf dem Glienicker Werder aber, der damals auch auf jenen Strecken mit Wasser umgeben war, wo jetzt bei Stolpe niedrige Wiesen sich hinziehen, hatten sie einen der Erde geweihten Tempel, zu welchem sie in den Nächten des Neumondes weither zogen, um auf dem Thingplatze den Sprüchen ihrer Priester zu lauschen. Die Abhänge des fast kreisrunden Grundes, der beim Bau der Chaussee eine ganz andere Gestalt erhalten hat, auf dessen Boden aber man jetzt noch ein mit Schilf umzogenes Wasserbecken sieht, waren mit hohen tausendjährigen Eichen bewachsen, an der Nordseite des tiefen Sees, den sie mit ihren Aesten beschatteten, befand sich eine aus rohen Steinen erbaute Höhle, und im Hintergrunde aus der knorrigen Wurzel eines Erlenstammes geformt stand das blutbefleckte Götzenbild, auf dem schmalen Raume zwischen dem Eingange der Höhle und dem See lag der flache Opferstein mit den Blutrinnen, und auf der andern Seite des Sees waren im Halbkreise die Steine aufgerichtet, welche den Häuptern des Stammes zum Sitze dienten, während der Priester das blutige Menschenopfer vor dem Bilde brachte. Eine kleine Strecke von diesem Orte auf der[108] breiten Kuppe des Schäferberges war in dem dichten Walde ein kreisförmiger Raum ausgehauen, von welchem nach allen Himmelsgegenden hin Wege ausliefen. In der Mitte lag ein mächtiger Felsblock und rings herum bezeichneten große Sitzsteine, die bis in die zweite Hälfte dieses Jahrhunderts noch zu sehen waren, den Thingplatz, wo von den wehrhaften Männern des Stammes über Krieg und Frieden Beschluß gefaßt ward. Ein unterirdischer Gang führte von der Stelle, wo der Tempel im tiefen Grunde (an der Berliner Chaussee) stand, bis zu der Kuppe des Schäferberges. Immer weniger wurden aber der Männer an den Tagen des Thinges, denn die siegreichen Wenden drangen immer weiter vor und das Häuflein der Vertheidiger schmolz immer mehr zusammen; da versammelte der alte hundertjährige Priester zum letzten Male die Männer seines Stammes und feuerte sie zum Kampfe an, indem er ihnen endlichen gewissen Sieg verhieß, zum letzten Male floß das Blut eines unglücklichen Gefangenen auf dem Opfersteine, das Götzenbild war aus der Höhle herausgebracht und mit allen seinen in vielen Kämpfen erbeuteten Schätzen geschmückt dicht an dem dunkeln See aufgestellt worden, vor ihm lag betend der Priester und um ihn die zu dem Stamme gehörigen Kinder, denn die Eltern, Männer und Frauen, waren ausgezogen, um ihre Heimath zu vertheidigen. Allein umsonst; als der Abend herabsank, waren alle gefallen, und wie die siegreichen Wenden am Morgen den tiefen Grund betraten, fanden sie nur noch die Kinder, die sie zu Sclaven aufzogen und dann nach und nach unter sich aufnahmen; der Priester und das Götzenbild aber waren verschwunden, der tiefe See hatte sie verschlungen. Dort mögen die Schätze noch liegen, allein Schlamm und Wurzelgeflecht überzogen den Boden des Sees bald dergestalt, daß es unmöglich war, bis auf den eigentlichen Grund desselben zu dringen.

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Nach Reinhard S. 8 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 108-109.
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