139. Das steinerne Schaf an der Marienkirche zu Stendal.192

[133] An dem noch jetzt erhaltenen Theile des steinernen Kranzes, der mit einer zinnenartigen Bekrönung den Eckpfeiler des hohen Chores der St. Marienkirche zu Stendal umgiebt, erblickt man ein Schafsbild, das freilich mehr einer Rinne ähnlich sieht, welche das hinter dem Kranze sich sammelnde Regen- oder Schneewasser ableiten soll. Die Volkssage giebt diesem Wahrzeichen folgende Erklärung. Es hätte vor grauen Jahren einmal ein Schäfer seine Heerde vor den Thoren der Stadt geweidet und als er vom Schlafe übermannt eingenickt und nach einiger Zeit wieder erwacht sei, habe er seine sämmtlichen Schafe zerstreut gesehen, er habe also dem Hunde befohlen, die Heerde wieder zusammen zu treiben; das habe derselbe auch getreulich gethan, allein ein einziges Lämmchen sei nicht von der Stelle gegangen, sondern habe in einem fort geblöckt, darauf sei der Schäfer selbst hingegangen und habe gesehen, wie das Schäfchen vor einem kostbaren Schatz von Gold, Silber und Edelsteinen gestanden, welchen sein Fuß aus der Erde gegraben. Er habe nun den Schatz gehoben und sei mit dem Schafe in die Stadt zurückgekehrt, dort sei dasselbe aber entlaufen, in das hohe Chor der Marienkirche geeilt und habe dort aus Herzens Lust geblöckt. Der Schäfer aber habe dies für eine Stimme Gottes gehalten, den ganzen gefundenen Schatz zum Bau der Kirche bestimmt, das Bild des Lammes aber in Stein am hohen Chore aushauen lassen.

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Nach Weihe, Bd. I. S. 29 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 133-134.
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