150. Der Stock auf dem Rathhause zu Stendal.206

[139] Vor 300 Jahren lebte zu Stendal ein Bürger, der von seinen Eltern ein großes Vermögen ererbt hatte; allein da er faul und träge war und alle Tage in Freuden lebte, so geschah es, daß er bald herunterkam und seine Zuflucht zum Borgen nehmen mußte. Da er aber immer noch den Schein rettete, so geschah es, daß einer seiner Freunde ihm wirklich die 200 Goldgülden, um die er ihn ansprach, lieh. Er dachte aber nicht ans Bezahlen und gab seinem Gläubiger drei Jahre lang weder Zinsen noch auch das Kapital wieder. Als aber Letzterer ungeduldig ward und ihn mahnte, da stellte er sich ganz entrüstet und sprach: »Wie kannst Du das Geld zum zweiten Male von mir verlangen? ich habe Dir ja schon längst die ganze Summe nebst Zinsen zurückgezahlt!« »Das lügst Du«, sprach der Gläubiger, »ich werde Dich als einen betrügerischen Schuldner verklagen.« Und es geschah also, die beiden Männer wurden aufgefordert, sich vor Bürgermeister und Rath zu stellen und ihre Sache anzubringen. Sie gehorchten auch, und als sie auf der Rathsstube erschienen waren, da fragte der Syndicus den Beklagten: »Habt Ihr wirklich dem Kläger da die Euch geliehene Summe wieder zugestellt und könnt Ihr das beschwören?« »Ja«, sagte der Schuldner, »das kann und will ich.« »Nun, dann hebt die Finger auf und schwört«, sprach darauf der Syndicus. Und der Beklagte sprach: »Recht gern, nimm Du nur – sich an den Kläger wendend – so lange meinen Stab in Deine Hand und halte ihn, bis ich die heilige Handlung vollbracht habe.« Solches geschah denn auch, und der Bösewicht schwur, er habe seinem Gläubiger die Summe baar und richtig in die Hände zurückgegeben. Als er den Schwur geleistet, hieß der Bürgermeister Beide gehen, und so gingen sie, der Schuldner voll Freude, der Gläubiger voll Leides. Als sie aber mitten auf der Rathhaustreppe waren, da begab es sich, daß der Gläubiger über seinen eigenen Stock, den er in der Rechten hielt, ins Stolpern kam und beide Beine brach. Allein, was viel wunderbarer war, der Stock zerbrach auch mitten entzwei und mit hellem Klange fielen lauter Goldgülden aus dem Innern desselben heraus und rollten die Treppe hinab. Da erkannte man wohl, aus welcher Ursache der Bösewicht seinem Gläubiger den hohlen Stock zum Halten in die Hand gegeben hatte: er hatte sich eingeredet, so keinen falschen Eid zu schwören,[139] wenn er jenem den Stock, worin er das geborgte Geld versteckt hatte, zu halten gebe. Der ehrliche Gläubiger sammelte schnell alle die ihm gehörigen Goldgülden und ging froh nach Hause, der Meineidige aber mußte in seine Behausung getragen werden; zwar starb er nicht, allein er mußte Zeit seines Lebens an Krücken gehen, und Jeder, der ihn so hinken sah, wies mit Fingern auf ihn und erinnerte sich seiner Missethat. Der Stock aber ist zum ewigen Andenken auf dem Rathhause verblieben.207

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S. Weihe, Bd. I. S. 55.

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Eine ähnliche Geschichte ist S. 40 unter den Berliner Sagen erzählt worden, eine dritte wird unten unter den Salzwedeler Sagen berichtet werden, und in der Nikolaikirche zu Gardelegen befindet sich ein sehr altes Gemälde, worauf derselbe Gegenstand dargestellt worden ist.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 139-140.
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