331. Der Wolfstein.400

[291] Bei dem Magdeburgischen Dorfe Eggenstedt, das unweit Sommerschenburg und Schöningen liegt, erhebt sich auf dem Anger nach Seehausen zu ein großer Stein, den das Volk den Wolfstein nennt und sich dabei folgende Sage erzählt.

In und an dem Brandsleberholze, das auch mit dem Hakel und dem Harz zusammenhängt, hielt sich vor langer, langer Zeit ein Unbekannter auf, von dem man nie erfahren hat, wer er war oder von wo er herstammte. Inzwischen kümmerte dies die meisten Bewohner dieser Gegend nur wenig, da er unter dem Namen des Alten überall bekannt war und öfters, ohne Aufsehen zu erregen, in die Dörfer kam um seine Dienste anzubieten, die er[291] auch zur Zufriedenheit der Landleute verrichtete. Besonders pflegte er die Hütung der Schafe zu übernehmen, wenn die Schäfer wegen der Schafschur oder anderer Hindernisse einen Gehilfen brauchten. Und so sah man den Alten bald bei dieser Heerde bald bei jener.

In der Heerde des Schäfers Melle zu Steindorf fiel einst ein niedliches buntes Lamm. Der Unbekannte bat den Schäfer dringend, ihm dieses zu schenken, und wiederholte die Bitte alle Tage, aber vergebens. Es kam der Tag der Schur und Melle brauchte die Hilfe des Alten. Mit Freuden hütete er seine Heerde, aber als Melle wieder zurückkam, fand er weder sein geliebtes buntes Lamm noch den Alten, alles Andere aber war in Ordnung.

Der Unbekannte war verschwunden und Keiner wußte, wo er war. Nach geraumer Zeit aber stand er ganz unerwartet vor dem Schäfer Melle, der im Kattenthal seine Heerde weidete, und rief ihm zu: »Guten Tag, Melle, Dein buntes Lamm läßt Dich grüßen.« Ueber diesen höhnischen Zuruf ergrimmte der Schäfer und griff nach seinem gekrümmten Hirtenstabe, um den endlich gefundenen Räuber zu strafen. Plötzlich aber wandelte der Unbekannte seine Gestalt und sprang ihm als Wehrwolf entgegen.

Erschreckt über den furchtbaren Feind verlor Melle die Fassung, aber seine Hunde stürzten wüthend auf den Wolf ein, der nach langem Kampfe endlich die Flucht nahm. Durch Wälder und Thäler verfolgten sie ihn unablässig, bis sie ihn in der Gegend des Dorfes Eggenstedt aufhielten. Melle, der sich vom ersten Schrecken erholt hatte, folgte der Spur und rief dem Wehrwolf, als er ihn von seinen Hunden umringt sah, mit furchtbarer Stimme zu: »Nun sollst Du sterben!«

Da stand plötzlich der Alte in Menschengestalt vor ihm, bat ihn, seiner zu schonen, schwur, nie wieder ein Lamm oder ein Schaf zu rauben und erbot sich zu jedem Ersatz. Doch nichts rührte den Ergrimmten. Wüthend stürzte er ein auf ihn mit seinem Hakenstock, aber – verschwunden war der Unbekannte. Es stand vor ihm ein plötzlich aufsprießender Dornenstrauch. Aber auch in dieser Gestalt verschonte ihn der Rachsüchtige nicht. Grausam zerhieb er die Zweige des Dornstrauches und wollte das zerknickte Gesträuch ganz vernichten. Noch einmal verwandelte sich der Unbekannte in einen Menschen und bat um sein Leben, aber der Hartherzige blieb unerbittlich. Da wollte er als Wehrwolf entfliehen, doch ein Streich von des wüthenden Melle Hand streckte ihn todt zur Erde.

Noch jetzt bezeichnet ein Felstrümmer den Ort, wo der Wehrwolf fiel und beigescharrt wurde, und heißt auf ewige Zeiten der Wehrwolfstein.

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Nach Otmar S. 273 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 291-292.
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