335. Der Sprung vom Schlosse Giebichenstein.404

[298] Das Schloß zu Giebichenstein ist ein sehr alter Ort, dessen Erbauung man dem Drusus oder Cäsar Gemanicus zuschreibt, wenigstens scheinen die bei Anlegung des Schloßgartens im Jahre 1718 gefundenen silbernen und kupfernen römischen Münzen es zu bestätigen, daß die Römer bis dahin vorgedrungen sind. Aber nicht das jetzt in der Zerstörung auf dem Felsen liegende Schloß schreibt man den Römern zu, sondern das, welches dem Felsen gegenüber auf der Anhöhe, worauf jetzt ein kleines Lusthaus steht, gestanden hat, wovon noch Ueberbleibsel von Mauern vorhanden und sichtbar sind. Ebenso unbekannt ist der Ursprung des Namens »Giebichenstein«; es heißt auch Wikenstein, Witkenstein, Gewekenstein, Chiwikenstein etc. Die wahrscheinlichste Erklärung scheint die zu sein, daß man es von den Wörtern ableitet: »Gev ik den Stein« d.h. geb ich den Stein oder den Fels (mit dem darauf gebauten Schlosse, welches das Schloß zum Stein geheißen haben soll), deren sich Otto I. in dem Briefe, den er bei der Schenkung desselben an die Kirche zu Magdeburg ausstellte, bedient haben soll.

Das Schloß selbst ward vor Erfindung des Schießpulvers für unüberwindlich gehalten und diente zur Verwahrung der Gefangenen, die der Kaiser zuweilen hierher schickte. Unter diesen soll sich auch der berühmte Landgraf Ludwig II. von Thüringen (geb. 1042 gest. 1123) mit dem Beinamen der Springer befunden haben.

Es hielt sich nämlich Ludwig in Thüringen oft in der Neuenburg bei Freyburg auf und verliebte sich hier in des Pfalzgrafen zu Sachsen Friedrichs[298] III. außerordentlich schöne Gemahlin Adelheid, und um sie zu besitzen, erstach er im Jahre 1065 den Pfalzgrafen auf der Jagd mit einem Schweinspieß. Der Bruder des Letzteren, Adelbert, brachte es auch bei Kaiser Heinrich IV. dahin, daß Ludwig in die Acht erklärt ward. Derselbe reiste im Jahre 1077 nach Magdeburg, er ward unterwegs unvermuthet aufgegriffen und aufs Schloß Giebichenstein gefangen gesetzt. Hier saß er nun schon zwei Jahre und acht Monate gefangen, ohne einen Richterspruch erlangen zu können, denn der Kaiser war außer Landes und Niemand anders konnte den Grafen richten als der Kaiser selbst. So saß er denn täglich kummervoll in seinem Thurmgemache, worinnen ihn sechs Ritter bewachten, und schaute in den Saalgrund hinab, über welchem sich bekanntlich auf hohem steilen Felsen die Burg Giebichenstein erhebt. Mittlerweile kam ihm aber zu Ohren, der Kaiser wolle ihn ob seiner That am Pfalzgrafen hinrichten lassen; es ward ihm also sehr um sein Leben bange und er begann sich für krank auszugeben und bat, daß sein Schreiber zu ihm gelassen werde, er wolle sein Seelgeräthe aufrichten und sein Haus bestellen, auch einen Diener forderte er, den er an seine Gemahlin Adelheid entsenden wolle. Und als ihm dies gestattet wurde, gebot er heimlich dem Diener, an einem gewissen Tage, wenn er das Seelgeräthe abzuholen komme, zu bestimmter Stunde mit seinem weißen Hengste, der Schwan genannt, drunten am Saalufer zu harren, auch das Roß wie zur Schwemme in den Saalstrom zu reiten. Hierauf stellte er sich ernstlich krank, machte auch sein Testament und ließ sich sein Sterbehemde bereiten und mehrere Mäntel bringen, dieweil ihn friere; in diese hüllte er sich und wankte am Stabe im Zimmer auf und ab, während seine sechs Wächter sich die Zeit mit dem Bretspiel vertrieben. Da es im Steingemach noch sehr kühl war, draußen aber die Sommersonne des Augustmonats warm schien, so lehnte sich der kranke Graf in das große Bogenfenster, das er geöffnet, und wärmte sich. Da er aber drunten den Diener zu Roß nebst seinem Schwan in die Saale einreiten sah, so war er plötzlich nicht mehr krank, sondern mit einem Satz am Fenster und mit einem zweiten außerhalb des Thurmes und mit wenigen Schritten ganz vorn am Felsenvorsprung, und von hier sprang er mit dem Ausrufe: »Jungfrau Maria, hilf Deinem Knechte!« vom Felsen gerade herab in den Strom. Die Mäntel umgaben ihn wie ein Rad, die Kähne ruderten herbei, der Landgraf gewann einen derselben und kam glücklich ans andere Ufer. Hier zog er trockene Kleider an, setzte sich auf seinen Schwan und eilte nach Sangerhausen zu seiner schönen Adelheid. Aber noch war er nicht in Sicherheit, er reiste daher mit Adelheid nach Rom und ließ sich vom Papste absolviren. Von dem Sprunge bekam er den Beinamen: der Springer oder Salicus.

Man zweifelt nun zwar an der Möglichkeit des Sprunges, namentlich wenn man die gegenwärtige Entfernung des Felsens von der Saale in Anschlag bringt. Allein untersucht man die Erdlage vom Felsen bis an das Flußufer, so findet man, daß sich die Oberfläche derselben erst nach und nach gesammelt hat, und daß früher die Saale entweder dicht an dem Felsen vorbeigeflossen ist oder doch gewiß bei großem Wasser eine solche Höhe erreicht hat, daß Kähne darauf fahren konnten, welches auch jetzt zuweilen noch der Fall ist. Es giebt aber andere historische Gründe, welche den Sprung und die ganze Begebenheit gänzlich zweifelhaft machen.

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S.J.G. Brieger, Beschreibung der Stadt Halle. Grottkau 1788 in 8. S. 191 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 298-299.
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