439. Die muthige Magd zu Goseck.528

[376] In der Mitte der fruchtbaren Saalaue zwischen Naumburg und Weißenfels liegt am linken Ufer der Saale auf einer ziemlich hohen, bewaldeten Thalwand das alterthümliche Schloß Goseck. In der Nähe desselben auf einer freien Fläche zwischen dem kleinen und großen Hahne (Name eines Gehölzes), südlich begrenzt von dem Sittichgrunde, stand vor langen Jahren ein Dorf, Gostilitz genannt. Dasselbe ist gänzlich verschwunden und nur zufällig entdeckt man beim Graben noch Spuren desselben, allein in der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts waren noch Mauerüberreste einer zu diesem Orte gehörigen Kapelle, der sogenannten wüsten Kirche vorhanden. Dieselben standen im Rufe, der Schauplatz von Geisterspuk zu sein, dienten aber in Wirklichkeit Spitzbuben und schlechtem Gesindel zum nächtlichen Versammlungsorte. Niemand wagte sich in der Nacht dorthin, bis vor ungefähr 100 Jahren die Magd eines Einwohners von Goseck es in Folge einer Wette unternahm, ein Bündel Weiden, welches ihr Herr denselben Tag in das Gemäuer gelegt, aber mitzunehmen vergessen hatte, zu später Nachtzeit zu holen. Die Nacht war so dunkel, daß man nur wenige Schritte vor sich einen Menschen erkennen konnte, dennoch schritt die Magd beherzt bis zu dem Eingange der eine Viertelstunde von Goseck entfernten wüsten Kirche, als sie am andern Ende der Ruine das Flüstern mehrerer Menschenstimmen vernahm und sie zu ihrem nicht geringen Schrecken und Erstaunen dicht am Eingange einen mit Kleidungsstücken angefüllten Tragkorb bemerkte. Ohne sich lange zu besinnen,[376] ergriff sie diesen Korb, sowie das daneben liegende Bündel Weiden und entfloh damit schnellen Schrittes, unereilt von den nachsetzenden Strauchdieben, die sich ihrer Beute so unerwartet beraubt sahen. Dies waren also die Gespenster; aber in dem nahen Sittichgrunde will man noch heute spukende Wesen, Mönche und Kobolde sehen.

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So nach C.A.G. Sturm, Goseck und seine Umgebungen. Naumb. 1844 in 8. S. 5.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 376-377.
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