642. Das blutende Johannishaupt am Deckengewölbe des Johannisthores zu Halberstadt.755

[599] Einst stand westlich vor Halberstadt das St. Johanniskloster; im Jahre 1293 ward es, da es ziemlich verfallen war, vom Bischof Volrad wieder hergestellt. In späterer Zeit unter dem Propste Rudolph hatte ein geschickter Steinmetz beim Bau des hohen Chores als Schlußstein des Deckengewölbes das Haupt Johannis künstlich aus rohem Sandstein gemeiselt, doch ehe derselbe eingesetzt ward, gebot der Propst noch eine Oeffnung in den Stein einzuarbeiten, damit er eine Reliquie vom heil. Johannes hineinlegen könne. Dies geschah auch, die Oeffnung ward schnell gemacht, die Reliquie hineingelegt und der Stein eingesetzt. Allein als am nächsten Feiertage Johannis des Täufers die Chorherren zur Messe in die Kirche kamen, gewahrten sie drei frische Blutstropfen unter dem Schlußsteine auf dem Fußboden. Sorgsam deckte man ein heiliges Gefäß darüber, und zeigte sie nur frommen Christen, welche die Wunder zu sehen wünschten. Kranke, die das Blut berührten, wurden gesund an Leib und Seele. Waren die Tropfen endlich verschwunden, so harrte man sehnsüchtig des Johannistages, an welchem stets drei frische Tropfen in einen goldenen Becher fielen, den man an die Stelle gesetzt, auf welche die ersten Tropfen gefallen waren. Sorgsam bewahrte man diesen Kelch, weil sein Inhalt stets Wunder verrichtete. Im Jahre 1522 ward von dem Cardinal Albrecht in dem Kloster eine gelehrte Schule angelegt, bald nachher zog aber die neue Lehre Luthers in seine Mauern ein und so geschah es, daß man nicht mehr an Wunder glaubte und das blutende Johannishaupt in Vergessenheit gerieth. Im Jahre 1587 zerstörte eine wüthende Feuersbrunst das ganze Kloster, die bisherigen Bewohner zogen nach der Stadt und auch seine Ruinen verschwanden mit der Zeit, denn jetzt ist nur noch der Platz zu schauen, wo es sonst gestanden hat. Derselbe gehört nämlich zum Theil zum Friedhofe der St. Katharinen-Gemeinde, zum Theil zu einer daselbst von einem gewissen Nicolai angelegten Badeanstalt.

Gleichwohl ist aber der Kopf Johannis des Täufers wunderbar erhalten worden, denn ein Baumeister, der bei der Reparatur des Halberstädter St. Johannisthores beschäftigt war und sich dazu der Steine der in Schutt zerfallenden[599] Klosterkirche bediente, ließ auch den Schlußstein des hohen Chores hier einmauern, weil ihm die Sage von den herabfallenden Blutstropfen noch bekannt war. Kaum hatte nun aber das Morgenlicht der Sonne im nächsten Jahr den Johannistag begrüßt und der Thorwart das Thor geöffnet, da gewahrte er unter dem Haupte auf dem Boden drei Blutstropfen. Seitdem sollen sie noch immer in jeder Johannisnacht herabfallen und ein tiefes Loch im harten Urgestein des Pflasters zeigt noch heute die Stelle, wohin die Tropfen gefallen, die den Stein ausgehöhlt haben.

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S. Sagen aus der Vorzeit des Harzes S. 163.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 599-600.
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