655. Der Heinrichstein.769

[616] Als in der Mitte des 15. Jahrhunderts das Faustrecht noch in schönster Blüthe stand, verschwand auch das blühende, unweit Eilenstedt gelegene Dorf Harmsdorf vom deutschen Boden. Der Ritter Heiso von Steinfurt, dem man seine Raubburgen zu Egeln und Alvensleben zerstört hatte, verband sich mit dem Bischof von Hildesheim und legte das seinen Feinden zugehörige Dorf Harmsdorf in Asche. Fast alle Einwohner kamen in dem Gemetzel um und nur wenige retteten sich durch die Flucht. Eine sterbende Wittwe rief ihrem neunjährigen Knaben zu: »Rette Dich nach Huyseburg!« und der arme Knabe schlug dorthin den Weg über Eilenstedt ein. Kraftlos vor Angst, Hunger und Durst, zumal in der brennenden Hitze sank er gänzlich erschöpft auf dem grünen Anger zwischen Harmsdorf und Eilenstedt nieder, wo eben damals ein Schäfer, Heinrich genannt, seine Schafe hütete. Da derselbe eben sein Morgenbrod verzehrte, bat ihn der Knabe nur um einen Bissen aus dem vollgestopften Ranzen, um den Hunger zu stillen. Der Bösewicht rief dem Knaben zu, er solle die Schafe von dem Weizenfelde forttreiben, dann solle er ein schönes Stück Brod haben. Das Kind raffte seine letzten Kräfte zusammen und scheuchte die Schafe, unterdessen aber knetete der Gottvergessene Koth der Schafe in eine ausgehöhlte Brodrinde und reichte solche hämisch dem Halbverhungerten mit den Worten: »Da friß, Bube!« Aber in demselben Augenblick fuhr ein Wetterstrahl aus einer am Himmel stehenden schwarzen Gewitterwolke, traf den Bösewicht und verwandelte ihn in einen Felsenstein, der noch heute im Thale unweit Eilenstedt zu sehen ist und nach jenem Schäfer der Heinrichstein genannt und den Kindern seit jenem Tage als eine Warnung vor Unbarmherzigkeit gezeigt wird.

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S. Sagen aus der Vorzeit des Harzes S. 317.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 616.
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