668. Die Rehbergerklippe bei Clausthal.782

[629] Einige Stunden von Clausthal liegt der hohe Rehberg, links von diesem rauscht der zwischen behauenen Granitblöcken eingeengte Rehbergergraben, rechts fällt das Gebirge jäh ab und bildet ein Thal, dessen dunkele Waldesnacht von den wilden Wellen der Ober durchbraust wird. Gleich hinter dem rauschenden Graben strecken sich die starren gigantischen Zacken der sogenannten Rehbergerklippe in die Lüfte und gewähren ein ergreifendes Bild einer einstigen Erdrevolution. Von dieser schauerlichen Gegend erzählt man aber folgende Sage.

Vor langer Zeit lebte hier in dieser Wildniß ein gewaltiger Jäger, hart und rauh wie der Felsen, auf welchem seine Wohnung stand. Das blutige Waidwerk war seine Lust und täglich jagte er mit seinem Troß durch den Wald, daß von dem Klaffen der Hunde und dem Schall der Hörner das Gebirge widerhallte und ein tausendstimmiges Echo wach wurde in den Geklüften der Felsen. Selbst der Gottesfrieden des Sonntags war nicht vermögend, die Mordlust des Jägersmannes zu zügeln und ihn an der Verfolgung der Thiere des Waldes zu hindern. Ein frommer Einsiedler ermahnte ihn oft, nicht mit seinem Gelärm die friedliche Stille des Sabbaths zu stören, aber die Worte des Greises fanden das Ohr des Waidmanns verschlossen und von dem Spott und Hohngelächter des Unholds begleitet schlich der Eremit betrübt nach seiner Klause zurück.

Der Abend eines schönen Octobersonntags senkte sich auf das Gebirge hernieder, die Gipfel der dunkeln Tannen auf Felsensteinen und Bergspitzen tauchten sich in den goldnen Glanz des Abendroths, auf der ganzen Gegend lag ein tiefes Schweigen, nur die Wellen der Oder murmelten in der Ferne ihr ewiges Lied, nur das scheue Wild verließ sein sicheres Versteck, trat vorsichtig mit leisen, langsamen Schritten aus dem Gebüsch und suchte zwischen den feuchten Kräutern des Bodens seine würzige Nahrung. Da ertönte plötzlich das Getöse in der Ferne, die friedlich äsenden Thiere flogen scheu in das Dickicht zurück und mit jeder Sekunde mehrte sich das Lärmen. Ein schneeweißes Reh flog mit der Schnelligkeit des Windes über die Berge, verfolgt von Jägern zu Fuß und Roß und umringt von der klaffenden Meute der blutgierigen Hunde. Der Boden erdröhnte von den Hufen der muthigen Rosse und unter dem Tritte der keuchenden Treiber, von den Bergen hallte das wilde Halloh der Reiter wieder, das Knallen der Peitschen und das Klirren der Waffen. Das gehetzte Reh aber stöhnte und entrann nur mit Aufbietung seiner letzten Kräfte den Verfolgern. Da stand es auf einmal athemlos an dem Abgrunde, der noch jetzt nach ihm die Rehbergerklippe genannt wird, und schreckte zitternd vor dem unbekannten, schwarzen Schlunde zurück. Aber lauter als zuvor donnerte der wilde Jagdruf, in immer gefährlicherer Nähe tönten die Hörner, gieriger fielen die Rüden ihre Beute an[629] und von Todesangst gepeinigt wagte das Reh den gräßlichen Sprung und stürzte sich in die Tiefe hinab. Da entstand plötzlich ein seltsames Licht, ein blendender Glanz umschimmerte das gequälte Thier und unsichtbare Hände trugen es sanft hinab in das sichere Thal. Die Jäger aber sammt Rossen und Hunden wurden von magischer Gewalt getrieben, dem Thiere nachzufolgen. Von den Felszacken aber stürzte der ganze Troß hinab in die Tiefe und große Granitblöcke und hohe Fichten sanken ihm nach und begruben die zerschmetterten Leichname in ewige Nacht. Von jener Zeit aber ist es nicht geheuer in diesen Bergen und der Fuß des einsamen Wanderers eilt scheu vorüber, wenn das Gestirn des Tages im fernen Westen erloschen ist. Um die Mitternachtstunde aber, wenn das Gekreisch der Nachtvögel aus den Spalten der Felsen ertönt und das phantastische Mondlicht die grauen Stämme der Bäume in lange gespenstige Gestalten verwandelt, da huschen wie Geister der Nacht riesige Jägergestalten durch das Gebüsch, es beginnt in der dunkeln Nacht der Tannen gar seltsam zu flüstern, ein dumpfes Getöse zieht herauf, denn von dem hohen Berge stürmt der wilde Jäger heran und mit ihm wunderliche Schauergestalten mit Schwertern und Geschoß, zu Fuß und zu Roß, umkläfft von Hunden, und vor ihnen her jagen mit Windeseile Wolf-, Bären- und Hirschgerippe. Dem wilden Schwarm weicht jedes lebende Wesen aus oder wirft sich, wenn es von ihm überrascht wird, mit dem Gesicht zur Erde, denn wer den Zug mit sterblichem Auge erblickt, stirbt.

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S. Thüringen und der Harz Bd. IV. S. 72 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 629-630.
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