754. Weking in der Babilonie.874

[714] Zwischen Lübbecke und Holzhausen, oberhalb des Dorfes Mehnen, liegt nahe an der Bergreihe ein Hügel, der die Babilonie genannt wird. Hier hatte einst König Weking eine mächtige Burg. Diese ist nun versunken, der alte König aber sitzt darinnen und harret, bis seine Zeit kommt. Es ist eine Thür vorhanden, welche von Außen in den Hügel und zu dem Palaste führt. Allein nur selten geschieht es, daß einer, ein besonders Begünstigter, sie erblickt.

Es mögen jetzt hundert Jahre sein, daß ein Mann aus Hille, Namens Gerling, welcher auf der Waghorst Schäfer war, seine Heerde an dem Mehner Berge weidete. Da sah er an dem Hügel der Babilonie drei fremde lilienartige Blumen und pflückte sie. Dennoch fand er des folgenden Tages gerade an derselben Stelle wieder drei solche Blumen. Er brach auch diese und siehe, am andern Morgen waren abermals an derselben Stelle wieder drei gleiche Blumen aufgeblüht. Als er nun diese gleichfalls genommen und sich dann in der Schwüle des Mittags hingesetzt hatte, so erschien ihm eine schöne Jungfrau und fragte ihn, was er da habe, und machte ihn aufmerksam auf einen Eingang in den Hügel, welchen er sonst nie gesehen und der mit einer eisernen Thür verschlossen war. Sie hieß ihn nun mit den Blumen das Schloß berühren. Kaum that er das, so sprang das Thor auf und zeigte einen dunkeln Gang, an dessen Ende ein Licht schimmerte. Die Jungfrau ging voran, der Schäfer folgte und gelangte durch das Dunkel in ein erleuchtetes Gemach. Gold und Silber und allerlei kostbares Geräth lag da auf einem Tisch und an den Wänden umher. Unter dem Tische aber drohte ein schwarzer Hund, doch als er die Blumen sah, ward er still und zog sich zurück. Im Hintergrunde aber saß ein alter Mann und ruhte und das war König Weking. Als der Schäfer das Alles angesehen, sprach die Jungfrau zu ihm: »Nimm, was Dir gefällt, nur vergiß das Beste nicht!« Da legte er die Blumen aus der Hand und erwählte sich von den Schätzen, was ihm das Beste schien und was er eben fassen konnte. Und nun eilte er das unheimliche Gewölbe zu verlassen. Nochmals rief ihm die Jungfrau zu: »Vergiß doch das Beste nicht!« Er blieb stehen und blickte zurück und sah umher, welches denn wohl das Beste sei, auch nahm er noch Einiges, was besonders köstlich schien. An die Blumen dachte er aber leider nicht, sondern ließ sie auf dem Tische liegen. Und diese waren doch das Beste, denn sie hatten ihm ja den Eingang verschafft. Ueberzeugt, gewiß nicht das Beste vergessen zu haben, ging er mit Schätzen beladen durch die dunkle Höhle zurück. Eben trat er an das Tageslicht hervor, als das Eisenthor mit solcher Gewalt hinter ihm zuschlug, daß ihm die Ferse abgeschlagen ward.

Dieser Schäfer liegt in der Kirche zu Hille auf dem Chore unter einem großen Steine begraben. Er hat nach diesem Ereignisse viele Jahre in großem Wohlstande gelebt. Allein den Eingang hat er nie wieder erblickt und seine Ferse ist nie wieder heil geworden, so daß man ihn bis an seinen Tod nie anders als mit einem niedergetretenen Schuh an diesem Fuße gesehen hat. Er hat auch manche Vermächtnisse hinterlassen, unter andern auch eins für[715] die Kirche zu Hille. Die Nachkommen seiner Erben besitzen aber noch gegenwärtig den Aswenhof in Hille, welcher von ihm angekauft worden ist.

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S. Kuhn Th. I. S. 272.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 714-716.
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