770. Das Muttergottesbild zu Soest.890

[723] In der Stadt Soest war einmal ein Bürgermeister, der hieß von Schueren. Er war ein sehr alter Mann und schon so schwach und gebrechlich, daß er kaum mehr gehen konnte. Diesem ist einmal im Schlafe eine Stimme vorgekommen, die also geredet hat: »Stehe auf und nimm unserer Lieben Frauen Bild von der Wiesen und trage es zu den Schwestern im Paradiese891, daß man mir dort Messen und feierliche Gesänge singe. Und darnach trage das Bild wieder nach Soest in unserer Lieben Frauen Münster von der Wiesen und stelle es dort an seine gewöhnliche Stelle.« Bald nachher ist dem alten Bürgermeister dieselbe Stimme zum zweiten Male vorgekommen, worüber er sich sehr erschreckt hat. Er hat also seinen Beichtvater um Rath gefragt, wie er sich mit diesen Dingen verhalten sollte. Der sagte ihm, er solle, ehe er zu Bett ginge, sich dreimal mit Weihwasser segnen; wäre es dann etwas Gutes, so würde es sich wohl weiter melden. Als er dies genau befolgt und sich darauf schlafen gelegt hatte, kam es zum dritten Male und weckte ihn hastig aus dem Schlafe. Als er die Augen aufschlug, fand er's vor sich so hell wie Sonnenschein und sah das Bild unserer Lieben Frauen deutlich vor sich stehen. Es redete ihn folgendermaßen an: »Habe ich Dir nicht gesagt, Du solltest mein Bild aus dem Münster von der Wiesen nehmen und es zu den frommen Schwestern im Paradiese tragen, damit mir dort eine Messe gesungen würde, und dann solltest Du das Bild wieder nach Soest zurücktragen in die Kirche von der Wiesen auf die alte Stelle?« Er antwortete: »Ich armer gebrechlicher Mensch, wie soll ich das heilige Bild tragen? wie in finsterer Nacht den Weg finden?« – »Du sollst«, erwiederte die Stimme, »das Bild nehmen und aus Sanct Walpurgis-Pforten mit ihm gehen; da wirst Du einen weißen Hund finden, der Dir den Weg zeigen soll!« Als er nun mit dem Bilde vor das Thor an die Steinbrüche kam, fand er dort einen ihm ganz unbekannten, mit Dornen dicht verwachsenen[723] Weg. Wohl grauete es ihm, die wilde Straße zu wandern, doch nahm er sich ein Herz und folgte dem weißen Hunde ganz den Weg zu Ende, ohne daß ihm irgend ein Leid geschehen wäre. Als er vor das Paradies kam, verließ ihn der Hund, worüber er sehr traurig ward, denn er wußte nicht, wer ihn nun auf dem Heimwege vor Unfall schützen würde. Als nun die Messen und die Loblieder gesungen und beendigt waren, fand der Bürgermeister den Hund wieder vor dem Paradiese, an der Stelle, wo jetzt das Heiligenhäuschen steht. Das Thier leitete ihn sofort wieder an Sanct Walpurgis-Pforten, wo er es gefunden hatte. Dort sprach die Stimme: »Eine solche Prozession soll alle Jahre einmal geschehen, den nächsten Sonntag nach unserer Lieben Frauen Geburt.« Als jedoch der Bürgermeister bald nachher starb, hatte man der Sache wenig Acht, so daß die Prozession nach und nach ganz unterblieb. Da erhob sich aber in Soest eine große Pest, bis man wieder anfing, die Prozession auf würdige Art zu begehen. Darauf hielt die Seuche sogleich inne. So ist es auch geblieben, bis endlich das Bild, als die Lutherischen nach Soest kamen, nach Werl gebracht ward, wo es noch heute zu sehen ist.

890

S. Seiler, Volkssagen aus dem Lande Paderborn S. 15.

891

So hieß ein Nonnenkloster bei Soest.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 723-724.
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