6. Die eilftausend Jungfrauen zu Altenberg.

[4] (S. Montanus Bd. II. S. 183 etc. nach Cäsar. v. Heisterb. B. VIII. C. 88 etc.)


Bekanntlich wurden einige hundert Gerippe aus der Schaar der 11000 Jungfrauen durch Gottes besondere Gnade im Jahre 1197 in dem Boden der Altenberger Klosterkirche gefunden. Mit diesen haben sich mancherlei wunderbare Begebenheiten und Wunder ereignet.[4]

Zu der Zeit, als eine große Anzahl von Gebeinen und Schädeln der heiligen Ursulalegion in Altenberg ausgestellt war, wuschen die frommen Mönche dieselben mit Wein, bestrichen sie mit wohlriechenden Salben und stellten sie auf den Sitzen des Capitelhauses mit ausgebreiteter frischer Leinwand zum Trocknen aus. Da ergoß sich plötzlich von den Gebeinen ein entsetzlicher Gestank, der Aller Nasen unausstehlich war. Abt Goswin aber, der fürchtete, daß dieses Ereigniß durch eine Schalkheit des Teufels, um die Andacht der Genossenschaft vor den heiligen Reliquien der Märtyrinnen zu stören, herbeigeführt werde, rief schnell einige Priester herbei und schrie in ihrer Gegenwart durch die halbgeöffnete Thür des Capitelhauses folgende Worte heraus: »Geist der Unreinigkeit, ich beschwöre Dich bei dem, der kommen wird zu richten die Lebendigen und die Todten, daß, wenn Du bei gegenwärtigem Gestank die Hände im Spiele hast, dies sofort zu Tage komme und Dein höllisches Machwerk vernichtet werde durch sie, die der Schlange den Kopf zertreten!« Wunderbar – kaum waren diese Worte den eifernden Lippen entflohen, da erhob sich ein großer Pferdeknochen vor den Augen aller staunenden Mönche aus der Mitte der Reliquien und flog wie vom Sturmwinde getrieben aus dem Capitelhause davon, und siehe, mit ihm war aller Gestank verschwunden, an der Stelle desselben aber verbreitete sich ein süßer Wohlgeruch in dem Saale und in der ganzen Abtei. Als nun die heiligen Gebeine gereinigt waren und zum Schmucke der Kirche rings auf den Altären aufgestellt werden sollten, da trat Abt Goswin vor die Todtenschädel und befragte sie im Namen des Gekreuzigten um ihren Namen, Stand und einstige Heimath. Und siehe, sie antworteten alle mit lieblicher Stimme, also daß der Abt zu einem jeden Alles, was er wissen wollte, anmerken konnte.

Ein Mönch aus Heisterbach, der sich damals gerade zu Altenberg befand und Augenzeuge aller dieser Wunder war, erhielt von dem Altenberger Convente einen Rückenwirbel einer Jungfrau aus der heil. Legion zum Geschenk für seinen Abt Gerhard. Voll Freude über diesen Schatz, den er in ein seidenes Tüchlein gewickelt in die Schenkeltasche steckte, begab er sich auf den Weg nach seinem Kloster. Unterwegs trat ihm plötzlich eine schöne Dirne in den Weg und der Unzuchtsteufel fing an sich in dem Mönche zu regen, siehe da ward auf einmal die Tasche so schwer, daß er kaum fortzuschreiten vermochte, und er fühlte an seinem Schenkel einen solchen brennenden Schmerz, als wenn er von einer glühenden Zange gezwickt würde. Der Schrecken darüber vertrieb die sündlichen Gedanken und Bilder aus der Seele des Mönchs, allein während er weiter wanderte, kehrten dieselben zurück, mit ihnen aber verdoppelte sich auch das vorige Wunder, so daß er auf dem Wege zusammenstürzte und erst lange nachher sich wieder erheben und mühsam zum Kloster zurückschreiten konnte. Hier angekommen gestand er dem Abt sein Vergehen, und dieser ordnete an, daß keiner seiner Mönche wieder ohne eine heilige Reliquie in der Tasche zu haben, irgendwohin aus dem Kloster geschickt werden sollte. Der Ruf dieser Reliquie verbreitete sich aber bald in der ganzen Umgegend, so daß auch von andern Klöstern dergleichen Rückenwirbelknochen aus Altenberg erbeten wurden, woraus es sich erklärt, warum bei den daselbst vorhandenen Skeletten so auffallend wenige Knochen dieser Art gefunden werden.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 4-5.
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