30. Das versunkene Schloß bei Altenrath.

[34] (Nach Müller S. 24.)


Auf dem Wege von Altenrath nach Scheiderhöhe, dort wo ein schmaler Steg über die Sülz führt, erhob sich vor alten Zeiten auf hohem Felsen ein prachtvolles Schloß, dessen Zinnen bis in die blaue Ferne das ganze Land beherrschten. Die glänzenden Rittersäle verkündeten den erstaunten Fremden den unermeßlichen Reichthum seiner Bewohner und duftige Gärten mit den seltensten Blumen und Gewächsen umgaben das herrliche Schloß wie ein blüthenreicher Kranz. Turniere und geräuschvolle Jagden wechselten mit den fröhlichsten Trinkgelagen und jeder Ritter hieß willkommen, der mit der tapfern Rechten seine Lanze im Turniere zu schwingen bereit war.

Am Fuße des Berges wohnte eine arme Wittwe, welche durch ihrer Hände Arbeit höchst kümmerlich sich und ihre drei Kleinen ernährte. Vor kaum zwei Monaten war ihr Mann, ein Nagelschmied, gestorben und was[34] sie noch an Geräthschaften etc. ihres Mannes besaß, das war auch schon in fremde Hände übergegangen, um die Kosten der Krankheit desselben zu erschwingen. Oft blickte sie traurig empor zu den Zinnen des nahen Schlosses, von wo das Freudengeschrei und der Gesang der frohen Zecher zu ihr herabschallte und gerne hätte sie sich mit dem Wenigen begnügt, das man den Jagdhunden vorwarf, allein ihrer erbarmte sich Niemand. Eben jetzt kehrte sie weinend zu ihrer ärmlichen Hütte zurück; sie war auf dem Schlosse beim wilden Grafen Meinhardt gewesen und hatte ihn um ein Almosen angesprochen, allein voll Unmuth hatte sie dieser mit Scheltworten von sich gestoßen. Als sie zur Thüre hereintrat, sprangen die abgemagerten Kinder auf sie zu. »Ach Mutter! gieb uns Brod, es hungert uns so sehr!« Und reichlichere Thränen rollten von ihren vor Gram tief gefurchten Wangen herab. Ermattet sank sie auf eine neben ihr stehende Bank nieder.

Da trat ein Diener des Grafen ein und theilte der hoffnungslosen Wittwe mit, noch vor Anbruch der Dämmerung müsse sie die Hütte räumen; der Graf wolle diesen Ort zur Erweiterung seiner Anlagen benutzen und am folgenden Morgen schon sollten die Arbeiten beginnen. Das war zu viel für Frau Gertrud, ohnmächtig sank sie zu Boden und als sie erwachte, sah sie sich nur von ihren Kindern umgeben, welche mit weinenden Augen den Hals ihrer todtenbleichen Mutter umfangen hielten. Bald faßte sie sich wieder, sie nahm ihr jüngstes Kind auf den Arm und eilte, die beiden andern Kleinen an der Hand, über den Bergfluß dem hohen Gebirge zu. Auf der Spitze des nahen Berges angelangt, wandte sie sich um; noch einmal wollte sie ihre theure Heimath betrachten und dann im Vertrauen auf Gottes Hilfe und Beistand ihren Weg fortsetzen. Doch wie sie so herabschaute in das schöne Thal und ihre liebe Hütte und wieder höher auf des Palastes Zinnen und wie sie das Getöse und Klingen im Hofraume des Schlosses vernahm, da erfaßte sie die Wuth der Verzweiflung, zitternd streckte sie die beiden Hände gen Himmel und ein fürchterlicher Fluch entströmte ihren bleichen Lippen. Kaum hatte sie die schaudervollen Worte gesprochen, da zitterte und bebte weithin die ganze Erde, der Boden des tiefen Thales that sich auf und Schloß und Felsen sanken in die Untiefe hinab. Noch heute zeigt man an dieser Stelle einen weiten Sumpf, aber das Andenken an den Fluch der Wittwe lebt im Munde des Volkes fort.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 34-35.
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