57. Die weiße Frau.

[76] (Nach Weyden S. 44 etc.)


In Cölln befindet sich eine Straße, wo früher auch ein Kloster stand, das wie diese den Namen »An der weißen Frau« führte. Man sagt, daß man bis diesen Tag um Mitternacht dort eine Gestalt im weißen Sterbekleide wandeln sieht, die schließlich dann nach der Richtstätte von Melaten schleicht, wo sie verschwindet. Die Sage erzählt, es sei dies der ruhelose Geist einer schönen Gerberstochter, die nachdem sie viele schöne und reiche Freier abgewiesen, endlich die Beute eines Ritters Diether von Lyskirchen aus einem der ältesten Cöllnischen Geschlechter ward, der sich als Gerbergeselle in das Haus ihres Vaters einschlich, ihre Liebe gewann und das Mädchen bald so zu berücken wußte, daß sie ihm ihre Unschuld zum Opfer brachte. Statt sie aber, nachdem sie eines Kindes genesen war, zu ehelichen, verspottete er sie sogar einstmals öffentlich von der Straße aus, als sie mit ihrem Kinde am Fenster des Hauses ihres Vaters stand. Darüber ward die Unglückliche so erbost, daß sie eines Tages, als er wieder auf der Straße geritten kam, ihm in den Weg trat, das Kind dem Pferde des Ritters vor die Füße warf, so daß die Hufe desselben es niedertreten mußten, dann aber mit der Kraft der Raserei das Schwert von der Hüfte ihres Verführes riß und es ihm tief in den Leib stieß, so daß er todtwund vom Pferde stürzte. Zwar führte man sie ins Gefängniß um dort ihre Strafe als Mörderin zu erwarten, allein der Herr umnachtete ihren Geist mit Wahnsinn und eines Tags als sie unbewacht war, hing sie sich auf. Ihr Leichnam ward als der einer Mörderin nach Melaten zur Richtstätte geschafft und dort verscharrt, seit dieser Zeit aber läßt sich zwischen 12 und 1 Uhr auf der Straße, wo der Doppelmord geschah, jene weiße Frau sehen, die durch ihre blasse Schönheit junge Männer an sich zu locken weiß, aber Allen, die mit ihr sprechen, in den nächsten Tagen den Tod bringt. Auf der Stelle aber des Hauses, wo sie gewohnt, erbaute ihr Vater ein prächtiges Nonnenkloster, damit das Gebet der frommen Schwestern die Gottheit mit seiner unglücklichen Tochter versöhnen möchte.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 76.
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