58. Das Crucifix im Kloster zu den weißen Frauen.

[76] (Nach Weyden S. 49.)


Obwohl die Nonnen in dem von dem Gerber für das Seelenheil seiner unglücklichen Tochter gestifteten Kloster dem strengen Orden der büßenden Magdalene angehörten, so versank dasselbe doch, man weiß nicht recht warum, bald in eine beklagenswerthe Zügellosigkeit. Die Schwestern gehörten nur mit dem Worte und Kleide der strengen kirchlichen Zucht an, ihre Gedanken und Wandel aber waren nur auf das Weltliche gerichtet, sie verlachten sogar alle Ermahnungen und Drohungen ihrer geistlichen Obern. Eine einzige Nonne blieb ihrem Gelübde treu, sie betete fast stündlich vor einem Crucifix,[76] das im Kreuzgange des Klosters hing, denn Ave und Messen wurden im Kloster fast gar nicht mehr gehört. Darüber ärgerten sich aber die andern Nonnen, sie wollten eine Fromme gar nicht unter sich haben und entfernten das Crucifix von der Wand, wo es hing. Allein die Nonne wußte sich zu helfen, sie nahm eine Kohle, zeichnete sich damit, so gut es ging, ein Crucifix an die Stelle des vorigen und betete zu demselben wie zuvor. Ihre Schwestern aber hatten nichts Eiligeres zu thun, als die Zeichnung wieder wegzuwischen. So wiederholte sich dieses Zeichnen und Abschaben mehrere Tage lang, plötzlich aber als die gottlosen Nonnen eben wieder beschäftigt waren, das von der frommen Schwester gezeichnete Bild des Gekreuzigten wegzumachen, erglänzte die Stelle in blendendem Lichte und aus dem harten Steine der Mauer bildete sich von selbst ein Crucifix ganz so gestaltet, wie es die fromme Nonne gezeichnet hatte. Da zog Reue in die Herzen der Verirrten ein, sie sanken auf ihre Kniee und beteten zu dem Heiland um Vergebung ihres Frevels. Das Wunder aber zog Tausende von Gläubigen in die Kirche, und als später das Kloster abgebrochen ward, ward das Crucifix in die Kirche zur h. Maria in der Schnurgasse versetzt, wo es sich jetzt noch befindet.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 76-77.
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