61. Der Weckschnapp zu Cölln.

[79] (Nach Weyden S. 255 etc.)


Am nördlichen Ende der Rheinseite der Stadt Cölln, da wo jetzt die Statue des Apostelfürsten St. Petrus, des Patrons der Fischer steht, erhob sich ehedem ein viereckiger hoher Wartthurm, durch eine Wehrmauer, unter der ein Thürlein durchführte, mit der Eckwarte der Stadtmauer verbunden. Der altersgraue in den Rhein hineinragende Thurm ist längst verschwunden, sein Unterbau mit den Wehrgängen aber steht noch und die Gegend heißt von ihm noch »Am Thürmchen«. Dieser Thurm war aber zu seiner Zeit in Cölln verrufen. Niemand ging gern in seine Nähe und mancher späte Wanderer hatte bleiche Gestalten an den Luglöchern des Thurmes stehen und unter Wimmern und Klagen die Hände ringen sehen. Dieser Thurm enthielt nämlich ein grausames Marterwerkzeug, den sogenannten Weckschnapp. Dieser furchtbare Ort der Strafe, der jedoch nur für Glieder der edlen Familien bestimmt war, welche sich eines Verbrechens schuldig gemacht hatten und deren Verwandte man nicht durch die offenkundige entehrende Strafe eines der ihrigen kränken wollte, enthielt nur ein einziges Gemach, welches durch eine Fallthüre mit dem Rheine in Verbindung stand. Trat Jemand darauf, so öffnete sich dieselbe und der Fallende wurde von vielen Messern durchbohrt die Beute des Flusses, dessen Wellen ihn fortspühlten. Derjenige aber, welchen das Loos traf, in diesem Thurme eingesperrt zu werden, erhielt weder Speise noch Trank und war dem fürchterlichsten Hungertode preisgegeben, wollte er nicht den Sprung wagen nach einem an der Decke hängenden Weck (Weißbrod). That er es endlich vom quälenden Hunger getrieben, so mußte er unfehlbar auf die Fallthür auftreffen, diese öffnete sich und verschlang ihn. Nun lebte einst zu Cölln eine Wittwe aus edler Familie in ihrem Hause am Pfaffenthore. Dieselbe hatte einen einzigen Sohn, den sie zu einem Staatsamte erzog und deshalb die dortige Hochschule besuchen ließ. Hier kam er aber bald in schlechte Gesellschaft, gewöhnte sich das Spielen an, machte Schulden und da er dieselben mit seinem geringen Einkommen nicht decken konnte, dasselbe auch sonst nicht für seinen lockern Lebenswandel zureichen wollte, so beraubte er erst seine Mutter. Als aber auch das Wenige, was er ihr nehmen konnte, aufgezehrt war, da schloß er sich einer Gesellschaft von Strolchen an, die die Straßen Cöllns unsicher machten. Einige Raubanfälle gelangen ihnen auch, allein eines Abends ward er mit seinen Spießgesellen bei einem solchen überrascht, von den Scharwächtern niedergeschlagen und als er von einem schweren Streiche, der ihn niedergeworfen hatte, des andern Morgens zu sich kam, fand er sich in einem hohen viereckigen Gemach, das vollständig leer war, von der Decke hing ein Weißbrod herab und in einer Ecke stand eine Leiter. Jetzt wußte der Elende, wo er war. Er brachte den ersten Tag unter Jammern und Klagen hin, auch den zweiten hielt er es noch aus, allein am dritten wurden die Qualen des Hungers so groß, daß er endlich zu der Leiter griff, sie anlehnte und langsam hinaufstieg. Da der Boden weder schwankte noch nachgab, faßte er wieder Muth und schon kam ihm die Hoffnung, daß die Sage von der Fallthür wohl nur Fabel sei, allein in demselben Augenblicke, wo er die oberste Stufe betrat, öffnete sich der Boden und er stürzte hinab.[80]

Vier Jahre waren schon vergangen und die Mutter hatte von ihrem ungerathenen Sohne nichts wieder vernommen, sie wußte nicht einmal, daß ihn der Weckschnapp weggerafft hatte, da pochte es eines Abends an ihre Thüre und als sie geöffnet hatte, stand ein vermummter Mann draußen, der sich in die Stube drängte, und ihr hier mit dem Ausrufe: »Geliebte Mutter lebst Du noch?« um den Hals fiel. Sie wollte ihren Augen nicht trauen, als sie ihren für todt gehaltenen Sohn vor sich sah und von ihm hörte, daß er im Weckschnapp eingesperrt gewesen, zwar in den Rhein gestürzt, aber von diesem nicht verschlungen worden sei, sondern sich durch Schwimmen gerettet habe. Er war nach mancherlei Abenteuern nach Brügge gekommen, hier in das Haus eines Kaufmanns getreten, der ihn liebgewonnen und, da er keine Kinder hatte, an Kindesstatt angenommen hatte. Er war jetzt gekommen um seine Mutter in sein neues Vaterland abzuholen. Allein er vermochte selbige nicht von ihrem Entschlusse, in Cölln ihrer Vaterstadt zu sterben, abzubringen und mußte unverrichteter Sache abziehen, zufrieden seine Mutter noch einmal gesehen zu haben.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 79-81.
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