79. Der Hinzenthurm.

[97] (Nach A. Reumont, Rheinlands Sagen S. 91 etc. cf. Müller, Aachens Sagen S. 111 etc.)


Im alten Limburger Lande, dort, wo die Emmaburg sich auf steilen und schroffen Steinmassen erhebt, gab es in den Felsen viele, jetzt meist[97] verschüttete unterirdische Gänge, in denen ein Koboldgeschlecht, welches man die Hinzen- oder Heinzenmännchen nannte, sein Wesen trieb. Bei Tage ließen sie sich gar nicht sehen, bei Nacht aber ging es desto toller zu. Denn sobald die Mitternachtstunde geschlagen, schwärmten sie weithin durch die Umgegend und machten ein solches Getöse und Geklapper an den verschlossenen Hausthüren, daß die Einwohner nicht anders vermeinten, als es ziehe der leibhafte Satan mit seinem wilden Heere durch Straße und Flur. Das dauerte denn eine gute Weile, bis endlich mit dem Glockenschlage Eins der Lärm sich allmählig nach den Felsenklüften zurückzog und man daraus wohl schließen konnte, daß nun die Hinzemännchen wieder nach Hause zurückgekehrt seien. Dort fing alsdann ein lustiges Schmausen und Jubiliren an, in ihren Grotten ward es plötzlich helle und manch verirrter Hirt und Wanderer hat, von dem wundersamen Lichterschein gelockt, es staunend mit angesehen, wie das kleine Völkchen lustig und wohlgemuth, um langgedeckte Tafeln gelagert, sich an den köstlichen Speisen und edeln Weinen ergötzte. Ja einstens belauschte ein kecker Jägerbursche, der sich tiefer in die unwegsame Schlucht hineingewagt, die lustigen Zecher, wie sie mit ihren kleinen goldenen Bechern zusammenstießen und fröhliche Zechlieder sangen. Doch theuer mußte der Lauscher seinen Vorwitz bezahlen, denn von dem Augenblicke an, da er den staunenden Nachbarn das Gesicht dieser Nacht erzählte, versiechte er zusehens an Leib und Gemüth. Der Geisterlieder Weise lag ihm immerdar im irren Sinne, und als das nächste Zwielicht die Umrisse des Gebirges umhüllte, summte er noch einmal den Schlußreim eines der gehörten Lieder vor sich hin und eilte in wildem Sprunge dem Felsgeklüfte zu. Nie hat eines Menschen Blick ihn wiedergesehen.

Der unausgesetzten Beunruhigung müde sannen indessen die Bewohner der Gegend allesammt, wie sie sich von dem Spuke der kleinen Koboldleutchen sichern und davon befreien könnten. Beschwörungen, die aus dem Munde frommer Priester kamen, richteten nicht viel aus, denn wenn sie sich auch eine kurze Zeit ruhig verhielten, kehrten sie doch sehr bald dem heiligen Werke zum Trotz zurück und begannen ihr altes Treiben von Neuem. Da vereinigten sich endlich alle Bewohner des Gaues, auf gemeinschaftliche Kosten eine Kapelle und zwar dicht an dem Felsengrunde der Emmaburg zu erbauen und förderten rasch diesen Entschluß zur That. Bald stand des heiligen Kreuzes Zierde auf dem neuen Gotteshause und zur Stunde, als sein geweihtes Glöcklein die Gläubigen zur heiligen Messe rief, war auch der Hinzlein Spuk aus Felsen und Gegend fortgebannt.

Kaum hatten aber die erlösten Landleute dem hochweisen Magistrat der freien Reichsstadt Aachen Anzeige von dem Verschwinden der Hinzen aus der Umgebung der Emmaburg gemacht, so ging in Aachen selbst der Teufelsspektakel los. An dem äußersten Stadtwalle zwischen dem Sandkaul- und Cöllnerthore stand ehemals ein hoher Mauerthurm, dessen unterirdische Gänge weit hinaus ins Land führten. Niemand hatte bisher seine unerforschten Tiefen zu betreten gewagt, denn schaurige Sagen gingen von ihnen umher. Dort schlugen nunmehr die Kobolde ihren Wohnsitz auf und trieben es da eben so bunt, wie vorher in ihrem Felspalast. Vorzüglich wurden aber die Bewohner der Cöllnerstraße von ihnen geplagt. Zu gewissen Zeiten des Jahres, welche durch mancherlei Vorzeichen wie z.B. ein leises Pochen[98] an der Hausthüre, ein Picken und Knistern auf dem Heerde, oder ein Gerassel unter dem Küchengeschirr angekündigt wurden, hielten die Heinzen großes Fest und die Einwohner waren alsdann genöthigt einen Theil ihres Haushalts, irgend ein kupfernes blankgescheuertes Geschirr dazu herzugeben, wenn sie sich den nächtlichen Frieden erkaufen wollten. Denn in dem Hause, vor dessen Pforte um die zehnte Stunde ein solches Geschirr nicht stand, oder in welchem gar einer der Insassen sich eine Aeußerung des Unglaubens erlaubte, da konnte man darauf rechnen, daß auch kein Mensch mehr ein Auge zuthun konnte. Gepolter, Trepp auf Trepp ab, Gezisch und Geheul in Rauchfang und Gängen, kurz ein wahrer Höllenlärm verscheuchte den Schlummer aus seinen Wänden. Dem Spötter aber ergings noch jämmerlicher, er wurde von unsichtbaren Händen dermaßen auf seinem Lager herumgezerrt und gequält, daß man ihn des Morgens wie halbtodt im Bette fand. Ja einmal hat es sich sogar begeben, daß zwei kühne Kriegsgesellen, die in dem Hause zum Wildenmann, wo jetzt der Gasthof zur kaiserlichen Krone ist, in Quartier gelegen hatten, den Hausherrn weidlich ob dem vorerwähnten Kesselsetzen aufzogen und sich vermaßen, daß die Hinzlein statt blanker Geschirre ihre blanken Degen finden sollten. Weshalb sie denn auch nicht zauderten, sondern als die zehnte Stunde schlug, sich mit gezogener Wehr vor die Hausthür setzten und wacker zechten. Bald aber hat man nicht weiter ihr lustiges Singen gehört, sondern mit Verwunderung wahrgenommen, daß sie in Zwist gerathen und als ein Paar blutdürstige Raufbolde, einer dem andern unaufhörlich: »Hinz, Hinz!« zuschreiend selbander zu Leibe gegangen, unter welchem Geschrei sie sich auch durch das Hinzengäßchen bis vor den alten Mauerthurm getrieben, an dessen Fuß man sie am andern Morgen, einer von des andern Schwert durchrannt, in ihrem Blute gefunden.

Solche schreckensvolle Beispiele mußten die Bürger vor ähnlichem Frevel warnen und darum blieb der Hinzlein Mahnung nie ohne Erfolg und vor jeder Hausthüre stand allabendlich richtig ein kupfern oder irden Geschirr zu ihrem Gebrauche bereit. Kam nun die Mitternacht heran, dann zog ein lärmendes Getümmel durch das, noch bis auf den heutigen Tag nach ihnen benannte Gäßchen bis gegen den Wildenmann in der Königsstraße heran, hier aber theilte es sich rechts und links, und nachdem es trapp, trapp, trapp durch das Stadtviertel die Runde gehalten, packte jedes Hinzlein seinen Kessel auf und eilte dem Thurme zu. Da wurde gejubelt bis zum Sonnenaufgange, des andern Morgens aber fand jeder Eigenthümer sein Kochgeschirr wieder blank und sauber vor seiner Thür, diejenigen ausgenommen, welche ihnen ihre Kessel nicht vollkommen rein überliefert hatten, denn solche fanden nicht allein diese, sondern auch ihr ganzes Haus über und über mit Koth und Schmutz beschmiert.

So trieben es die lustigen Kobolde viele Jahre hindurch und waren bereits in den Gassen vollständig heimisch geworden, da verscheuchte die Einweihung des Regulirherren-Klosters sie aus ihrem Aufenthalte. Seit dieser Zeit hat man nichts mehr von ihnen gehört noch gesehen, aber obwohl der alte Thurm, wo sie gehaust, längst in Schutt liegt, so ruft doch der Name Hinzengäßchen den Bewohnern Aachens ihr Dasein hier stets ins Gedächtniß zurück.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 97-99.
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