128. Die Sage von der h. Genovefa.

[146] (S.J. Zacher, die Historie von der Pfalzgräfin Genovefa. Königsberg, 1860 in 8°. Geib S. 381 etc.)


Zur Zeit des Trierschen Bischofs Hildulfus um das Jahr 750 n. Chr. Geb. lebte im Trierschen Lande ein vornehmer Graf, Namens Siegfrid, der sich mit der reichen und tugendhaften Genovefa, einer Tochter des Herzogs von Brabant vermählte. Zu derselben Zeit aber begab sich's, daß der König der Franken, Karl Martell, alle seine Vasallen aufbot zu einem Kampfe wider den aus Spanien ins Frankenreich verheerend eingefallenen König Abderrahman. Auch Pfalzgraf Siegfrid mußte dem Aufrufe folgen und empfahl seine vom Abschiedsschmerze überwältigte Gemahlin Genovefa dem Schutze Gottes und der Jungfrau Maria, indem er sie zugleich der Obhut und Pflege seines Dieners Golo übergab. Das gewaltige maurische Heer ward zwar von den Franken sehr bald geschlagen, der Rest desselben warf sich jedoch sammt seinem Könige in die feste Stadt Avignon und nöthigte die Franken zu einer so langwierigen Belagerung, daß Siegfrids Heimkehr sich über ein ganzes Jahr verzögerte.

Unterdessen hatte aber Golo die Pfalzgräfin Genovefa mit Liebesbewerbung bedrängt, und als er sich entschieden abgewiesen sah, sie eines ehebrecherischen Umganges mit dem Koche Dragones beschuldigt und darnach in einem Thurm gefangen setzen, den Koch aber in einen Kerker und dort vergiften lassen. Niemand durfte die gleich einer Verbrecherin gehaltene Genovefa besuchen, als Golo's Amme und Golo selbst, der sie auch hier noch weiter mit seiner Werbung bedrängte. Allein sie widerstand auch jetzt nicht minder beharrlich und gebar im Thurme einen Knaben, den sie, da ihm die Taufe versagt ward, selbst taufte und Schmerzensreich benannte. Als nun Golo endlich einsah, daß er die Tugend Genovefa's nimmer erschüttern könne, und sich um die Rechtfertigung seines Verfahrens zu sorgen[146] begann, sandte er zwei Monate nach der Geburt des Knaben einen Diener zu dem an einer Wunde krank liegenden Pfalzgrafen nach Languedoc mit einem Briefe, in welchem er seine Herrin des Ehebruchs mit dem Koche beschuldigte, und dadurch den Grafen so entrüstete, daß dieser die Hinrichtung des Koches und die Einschließung seiner Gemahlin befahl. Weil aber Golo doch noch befürchtete, daß bei der bevorstehenden Heimkehr des Grafen die Wahrheit an den Tag kommen werde, ritt er ihm selbst nach Straßburg entgegen und ließ ihm dort durch die mit Hexenkünsten vertraute Schwester seiner Amme die Untreue seiner Gattin in einem Spiegel vorgaukeln, so daß der Graf in seiner Aufregung die Mutter sammt dem Kinde zu tödten gebot. Kaum zurückgekehrt, vertraute Golo seiner Amme den erwünschten Erfolg seines Anschlages. Dies hörte jedoch von ohngefähr das Töchterchen der Amme, welches alsbald der gefangenen Gräfin durch das Kerkerfenster heimlich davon Kunde gab und ihr die Mittel verschaffte, in einem kurzen Abschiedsbriefe unter Andeutung des wahren Sachverhaltes dem Gemahl ihre Unschuld und zugleich auch ihre Verzeihung zu versichern, welchen Brief das Mädchen darauf in Genovefa's Zimmer legte.

Am nächsten Morgen befahl Golo zweien Knechten, die Gräfin sammt dem Kinde in den wilden Wald hinauszuführen und dort zu tödten. Diese aber erbarmten sich des unschuldigen Blutes, ließen sie auf ihre Bitte und gegen das Versprechen, nimmer aus der Wildniß an den Tag zu kommen, am Leben, und brachten als Wahrzeichen der vollführten That Zunge und Augen eines Hundes zurück. Genovefa barg sich in einer endlich aufgefundenen Höhle, neben einem Wässerlein, und fristete ihr Leben kümmerlich mit Beeren und Wurzeln, dem fast verschmachtenden Kinde aber sendete Gott auf ihr brünstiges Gebet eine Hirschkuh, welche ihm täglich ihre Milch zur Nahrung darbot. Das Mühsal der nun folgenden schweren Jahre ertrug Genovefa mit frommer Ergebenheit und fleißigem Gebete und dankte Gott sogar, daß er sie aus der Gefahr der Welt errettet und in die Einöde geführt hatte, gleichwohl übermannte sie zuweilen der Unmuth, so daß sie in bittere Klage über ihr und ihres Kindes unverschuldetes Leid ausbrach. Da brachte ein Engel vom Himmel ihr ein schönes Crucifix, dessen Anblick nicht nur sie beruhigte und erhob, sondern dessen Heilandsbild sogar ihr einmal selbst mit lebendigen Worten Trost zusprach und ein andermal sie an die Brust drückte. Auch dem kleiderlosen Kinde kam weitere Hilfe durch einen Wolf, der auf Gottes Geheiß ihm eine Schafshaut brachte, und bald auch wurden alle Thiere des Waldes ihnen friedliche und zutrauliche Genossen. Endlich auch, als Genovefa einmal in schwerer Krankheit den Tod bevorstehend glaubte, offenbarte sie dem Sohne die Geschichte seiner Geburt und seines Schicksals. Da traten aber zwei glänzende Engel in ihre Höhle und brachten ihr plötzliche Genesung.

Inzwischen hatten Zweifel, schwere Träume und Gewissensbisse den Pfalzgrafen Siegfrid hart beunruhigt, zumal nachdem er den Abschiedsbrief seiner Gemahlin gefunden und gelesen hatte; doch wußte Golo ihn immer wieder zu beschwichtigen und heftigeren Aufwallungen durch zeitweilige Entfernungen vom Hofe auszuweichen. Als aber dann dem Grafen der Geist des ermordeten Koches erschien, ihm seinen mit den Ketten verscharrten Leichnam offenbarte und erst nach dessen kirchlicher Bestattung und nach gehaltenen Seelenmessen[147] Ruhe fand, und als endlich gar die Straßburger Hexe kurz vor ihrer wegen anderweiter Verbrechen erfolgten Hinrichtung freiwillig bekannte, mit welchen Künsten sie den Graf betrogen habe, da lag die Unschuld Genovefa's und die Schuld Golo's so klar zu Tage, daß sie keinem weitern Zweifel Raum ließ. Deshalb schrieb Siegfrid an den nun schon seit zwei Jahren vom Hofe entfernt lebenden Golo mehrere freundschaftliche Briefe, und als er ihn sicher genug gemacht hatte, ladete er ihn endlich mit vielen andern Gästen zu einem großen Feste auf Dreikönigstag, sieben Jahre nach Genovefa's vermeinter Ermordung.

In Begleitung Golo's und der übrigen bereits angekommenen Gäste ritt der Graf zur Jagd hinaus, und ward in Verfolgung einer Hirschkuh zur Höhle Genovefa's und dadurch zur unverhofften Wiedergewinnung von Gemahlin und Kind geführt. Den fröhlich zum Schlosse Zurückkehrenden überreichten zwei Fischer einen großen Fisch, in welchem darnach, als man ihn schlachtete, der Trauring Genovefa's gefunden ward, den diese auf ihrem vermeinten Todeswege aus Unmuth ins Wasser geworfen hatte. Golo ward nach Ablauf des Festes zufolge des Urtheilspruchs der gesammten Freundschaft von vier Ochsen zerrissen. Genovefa selbst aber vermochte sich von der langen und schweren Mühsal nicht wieder zu erholen, sondern starb bereits nach einem Vierteljahre am 2. April des Jahres 750, und bald darauf verschied auch die nicht mehr von ihr gewichene Hirschkuh auf ihrem Grabe. Siegfrid, den ein Engel in Gestalt eines Pilgers tröstete, erbaute an der Stelle von Genovefa's Höhle eine Kirche, welche Bischof Hildulf von Trier zu Ehren der Mutter Gottes weihete und »Unserer Lieben Frauen Kirche« benannte. In ihr ward nach der Einweihung Genovefa's Leichnam feierlich beigesetzt, das himmlische Crucifix auf den Hochaltar gestellt und auf dem Grabsteine unter dem Wappen der Gräfin die Hirschkuh ausgehauen. Siegfrid selbst aber, der Welt überdrüssig, bezog nebst seinem Sohne Schmerzensreich eine neben der Kirche eingerichtete Einsiedelei, woselbst sie in frommer Andacht verharrten bis an ihr seliges Ende.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 146-148.
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