137. Die Kapelle von Neef.

[155] (S. Merck S. 105 etc.)


Auf schwindelnder Felshöhe liegt die Neefer Kapelle, zu ihr sieht der fremde Wanderer oder der Schiffer auf der Mosel häufig Leichenzüge aus dem Thale hinaufklimmen und wenn er nach der Ursache dieser sonderbaren Erscheinung fragt, so hört er Folgendes.

In alten Zeiten hatten die Neefer ihre Kirche unten im Thale, hier begruben sie auch damals ihre Todten. Die Kirche stand mehrere Jahrhunderte, da machte ihre Baufälligkeit und die zunehmende Zahl der Einwohner eine neue nöthig und man riß also die alte nieder, um eine weit schönere und größere an ihre Stelle zu erbauen. Alles im Dorfe legte Hand an, mit dem größten Eifer schaffte man die nöthigen Baumaterialien herbei, die Bewohnerinnen des nahe gelegenen Klosters Stuben ließen es auch nicht an Geldunterstützung zur Förderung des Baues fehlen. Allein an jedem neuen Morgen fand man Steine, Hölzer, kurz Alles, was man den Tag zuvor unten zusammengebracht hatte, oben auf der Höhe. Anfangs glaubte man, böswillige Menschen machten sich einen Scherz mit diesem Fortschleppen, allein als sich dies täglich wiederholte, mußte man doch schließlich an eine andere Ursache denken, mehrere Dorfbewohner beschlossen also des[155] Nachts über bei den zusammengebrachten Baumaterialien Wache zu halten und siehe, es glitten auf einmal von dem stillen, sternbesäeten Mitternachtshimmel mit Flügeln versehene Geistergestalten hernieder, senkten sich über die Steine herab und trugen sie mit Blitzeseile hinauf nach der Stelle, wo das früher Hinaufgeschaffte gelegen hatte. Jetzt erst erkannte man den Willen des Himmels; die Kirche wurde am selbigen Orte aufgebaut und neben ihr weihte man den Kirchhof ein. Seit der Zeit, so oft ein Einwohner von Neef stirbt, geleitet man ihn hinauf und bettet ihn dort auf luftiger Höhe zu langem Schlafe.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 155-156.
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