158. Scheitnicht.

[175] (S. Gödsche S. 43.)


In der Umgebung von Breslau am Ufer der Oder liegt ein Dorf, wohin die Breslauer des Vergnügens wegen zu pilgern pflegen, dieses heißt Scheitnicht. Der Ursprung des Namens soll folgender sein.

In der Nähe dieses Ortes stand im Mittelalter eine Ritterburg, auf der ein junges Ehepaar wohnte; dasselbe lebte glücklich und zufrieden, allein auf der Burg hielt sich ein Burgpfaff auf, der sein Auge auf die junge Rittersfrau geworfen hatte und ihrer Tugend nachstellte. Es versteht sich, daß alle seine Bemühungen, sich bei der tugendhaften Frau einzuschmeicheln, fruchtlos blieben, darum versuchte er es auf andere Weise. Er wußte den Glaubenseifer des Ritters anzufeuern, so daß derselbe nicht übel Lust bekam, sich einem damals gerade unternommenen Kreuzzuge anzuschließen, und der Mönch hoffte, derselbe werde entweder gar nicht wiederkehren oder er werde wenigstens in der Abwesenheit des Ritters Zeit und Muße haben, das Herz seiner Frau zu gewinnen; indessen wußte die Rittersfrau ihrem Manne sein Vorhaben immer wieder auszureden und so gelang es ihr denn, ihn dahin zu bringen, daß er es dem Ausspruche des Zufalls überlassen wollte, ob er ziehen solle oder nicht. Darauf gingen sie mit einander hinaus in's Freie und wanderten immer querfeldein durch Wiesen, Felder und Wald, bis sie selber nicht mehr wußten, wo sie waren. So kamen sie denn endlich auf eine freie Stelle und sahen einen kleinen Weiler vor sich; ein Bauer aber, den sie nach dem Namen desselben fragten, gab ihnen denselben mit dem Worte »Scheitnicht« an, und die Gatten hielten diesen Namen für den Orakelspruch des Schicksals: »Scheide nicht«. Aus Dankbarkeit baute der Ritter den Ort nachher weiter an, den Pfaffen aber jagte er aus der Burg.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 175.
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