197. Die Hummelfrau.

[205] (Poetisch behandelt von A. Kypselos [Kastner] in seinen Glatzischen Sagen. Breslau 1838 Bd. I. S. 7 etc.)


Einst lebte zu Nerbotin bei Glatz ein armer Holzhauer, der sich mühsam vom Holzfällen im Hummelthale ernährte. Derselbe konnte einstmals in der Nacht nicht schlafen, ein gewisses Etwas trieb ihn aufzustehen und in den Wald an seine gewohnte Arbeit zu gehen. Er begab sich also lange vor Tage in den dichten Fichtenwald, welcher die Trümmer des alten Hummelschlosses umgiebt, da stand auf einmal ein gespensterhaftes Weib in einem weißen, mit Blut beflecktem Gewande, mit schwarzen fliegenden Haaren, ein Schlüsselbund an der Seite und einen Dolch in den Händen, vor ihm. Erschreckt schlug er ein Kreuz und sprach: »Alle guten Geister loben Gott den Herrn!« Die Gestalt aber antwortete: »Fürchte Dich nicht, ich will Dir nichts zu Leide thun, im Gegentheil bitte ich Dich, mir zu helfen. Ich bin der abgeschiedene Geist einer Edelfrau dort oben vom Schlosse. Ich hatte ein Verhältniß mit einem benachbarten Ritter angefangen, mein Gatte bekam Wissenschaft, wie jener eines Tages sich ins Schloß geschlichen hatte, um mit mir eine Zusammenkunft zu haben, er ließ ihn festnehmen und in[205] den Kerker werfen, mir aber verzieh er unter der Bedingung, fortan der Tugend treu zu sein. Ich versprach Alles, allein eines Nachts, als mein Gemahl an meiner Seite schlief, stieß ich ihm diesen Dolch in die Brust, eilte dann hinab zu dem Kerker meines Buhlen, öffnete selbst mit diesem Schlüsselbund die Thüre des Gefängnisses, befreite ihn und lebte fortan in Saus und Braus mit ihm, bis mich der Tod mitten in meinen Sünden ereilte. Seit diesem Augenblicke kann ich nicht zur Ruhe eingehen, sondern muß im Schooße dieses Berges meiner Erlösung harren, die Flecken von dem Blute meines Gemahls und das Schlüsselbund in meiner Hand brennen aber wie höllisches Feuer mein Gebein, und ich bitte Dich fußfällig, mich zu befreien. Nur alle hundert Jahre ist dies möglich und diese sind jetzt gerade um.« Als nun der mitleidige Holzhauer sie fragte, wie er dies anfangen solle, sagte sie: »In der nächsten Mitternachtstunde sei hier in diesem Thale, da werde ich Dir in der Gestalt eines furchtbaren Drachen, das Schlüsselbund im Rachen haltend, erscheinen. Das mußt Du mir trotz meines scheinbaren Widerstandes zu entreißen suchen und mit diesem Dolche hier mich durchbohren, daß mein schwarzes Blut fließt. Dann bin ich erlöst. Laß Dich durch nichts erschrecken, ich werde Dir kein Leid anthun; kannst oder willst Du dies nicht versuchen, muß ich wieder hundert Jahre umgehen und auf einen neuen Befreier harren!« Der Holzhauer versprach ihr mitleidig zu kommen und den Kampf zu wagen, und da reichte sie ihm den blutigen Dolch. In der Mitternachtstunde des nächsten Tages war er auch richtig zur Stelle, als er aber den aus dem Dickicht hervorbrechenden, heiseres Gezisch ausstoßenden und Feuer aus seinem ungeheuern Rachen ausspeienden in ungeheuren Ringen auf ihn losstürzenden Drachen gewahrte, war auch sein Muth dahin, er flüchtete in schnellen Sprüngen den Berg hinan, der Drache hinter ihm her, als er aber jetzt vor Angst den Dolch fallen ließ, da geschah ein furchtbarer Knall, und der Drache war verschwunden. Eine Stimme aber rief: »Wiederum verloren!« So sitzt die Unglückliche wohl jetzt noch auf dem Grunde des Hummelberges und wartet auf einen Erlöser.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 205-206.
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