348. Die glücklichen Schatzgräberinnen.

[398] (S. Haupt Bd. I. S. 237.)


In einem Dorfe bei Görlitz steht ein großer Pfarrhof mit einem kleinen Gedingehäuschen. Dort hatte der Pastor aus Mitleid einer armen Wittwe[398] ein Unterkommen eingeräumt. Sie selbst war in dem Herrnhutischen Glauben aufgewachsen und ziemlich menschenscheu und sonderbar, noch mehr aber war es ihre Tochter, ein Mädchen von ohngefähr 15 Jahren. Diese war eine Art Hellseherin, sie träumte immer, was zu gleicher Zeit oder bald nachher sich ereignete, hörte sich manchmal beim Namen rufen, während alle Anwesenden nichts davon hörten, wurde zu Zeiten mitten auf freiem Felde wie von unsichtbaren Händen festgehalten, so daß sie nicht von der Stelle konnte, schlich für gewöhnlich krank und blaß umher und hatte überhaupt ein so unheimliches Wesen, daß sich die Kinder im Dorfe vor ihr fürchteten. Da träumte ihr einmal, ein graues Männchen nehme sie bei der Hand und führe sie in das Kirchgäßchen, dort zeige ihr der Geist einen unter die Erde eingemauerten Schatz, der aus einer goldenen Kette und alten Münzen bestand. Sie erzählte den Traum ihrer Freundin, der in gleichem Alter mit ihr stehenden jüngsten Tochter des Pastors. Beide verabredeten das tiefste Stillschweigen und als der Abend kam, machten sich die beiden Mädchen, mit einer Hacke bewaffnet auf, um den Schatz zu heben. Die Hellseherin fand ohne Mühe die bezeichnete Stelle an der Mauer wieder, man stieß auf eine Schicht Knochen, dann wieder auf Erde, endlich aber auf eine steinerne Platte, wie es das Mädchen vorausgesagt, allein diese aufzuheben waren sie zu schwach. Sie eilten also ins Pfarrhaus zurück, statt aber ihre Eltern ins Vertrauen zu ziehen, holten sie eine im Hause dienende stämmige Magd, vertrauten sich derselben an und führten sie an die bezeichnete Stelle. Aber auch diese versicherte, die Platte sei ihr zu schwer, sie wollten also den nächsten Abend wieder hingehen und eine stärkere Schaufel mitnehmen. Dies thaten sie auch, und der Stein ging dieses Mal sehr leicht aus der Erde. Sie fanden auch, genau wie es das Mädchen geträumt hatte, ein ausgemauertes viereckiges Behältniß, aber weder eine goldene Kette noch goldene Münzen. Der Schatz war bereits gehoben. Die Magd heirathete bald darauf ihren Geliebten und die bis dahin blutarmen Menschen sind reiche und angesehene Bauersleute geworden. Diese Geschichte ist in diesem Jahrhundert passirt.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 398-399.
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