356. Die Sagen von der Stadt Rhetra.

[408] (S. Stolle, Gesch. v. Demmin S. 469-489. Kanngießer, Gesch. v. Pommern bis a.b.I. 1129. Greifsw. 1829 in 8°. S. 168. etc.)


In den uralten heidnischen Zeiten war in Pommern eine berühmte Stadt, Rhetra geheißen. Dieselbe war der Hauptsitz der Pommerschen Götter, besonders des Götzen Radegast (nach Ditmar [VI. S. 381] hieß er Luarasio, d.h. Rathgeber). Hier war auch das Hauptpanier der hier wohnenden Tollenser und Redarier, eines Zweiges der Lutizier, ein geflügelter Drache, Zirnitra genannt. Die Stadt selbst war gleichzeitig auch der höchste Regierungssitz des Volkes. Sie war dreieckig gebaut und rings von Wald[408] umgeben, der aber von den Einwohnern sorgfältig geschont und für heilig geachtet ward. Zwei Theile der Stadt standen für Jedermann offen, der dritte gen Osten gerichtet zeigte blos einen Fußweg und die Aussicht auf einen schauerlichen See und enthielt nichts weiter als einen aus Holz künstlich erbauten Tempel, der auf einer Unterlage von Thierhörnern ruhete. Die äußern Wände waren mit künstlichem Schnitzwerk versehen und stellten verschiedene Götter und Göttinnen vor. Im innern Raume standen die Bildsäulen selbst, an jeder war der Name des Gottes eingegraben, wie solches sich an denjenigen Götterbildern noch findet, welche bei Prillwitz, dem vermuthlichen Platze des alten Rhetra (nach Andern wäre es da, wo jetzt das Dorf Cummerow oder die Stadt Treptow an der Tollensee liegt), ausgegraben und in dem großherzoglich mecklenburgischen Schlosse zu Strelitz aufgestellt sind. Sie waren alle furchtbar mit Panzern und Helmen bekleidet. Zur Aufsicht und Pflege dieser Heiligthümer waren besondere Priester bestellt, welche nebenbei auch den Orakeldienst versahen. Sie erforschten den Willen ihrer Götter und erklärten in Folge desselben, ob ein Beschluß des Landtags ausgeführt werden solle oder nicht. Dies geschah nun auf folgende Weise. Während alles Volk stand, saßen sie auf dem Boden, murmelten abwechselnd geheimnißvolle Gebete und gruben mit Zittern und Beben in die Erde, bis sie gewisse Orakelzeichen herauswarfen, welche eine zuverlässige Antwort über den ungewissen Ausgang beabsichtigter Unternehmungen zuließen. Waren sie damit zu Ende, so bedeckten sie jene Orakelzeichen mit grünem Rasen und führten ein großes, für heilig geachtetes Roß über zwei kreuzweise mit den Spitzen in die Erde geheftete Speere, mit einer Art demüthiger Behandlung, welche dem Rosse keinen Zwang anthat, sondern bittweise es zu diesem Dienste anleitete. Durch dieses heilige Roß wurde die Richtigkeit oder Unrichtigkeit der vorhin gefundenen Orakelzeichen und der darauf gegründeten Erklärungen auf's Neue geprüft und man konnte aus dem Gange und dem Verhalten des Rosses, wenn es mit dem Fuße an die Spieße stieß und sie in Unordnung brachte, oder sie gar nicht berührte, günstige oder ungünstige Schlüsse ziehen. Zeigte sich in beiden Stücken gleiche Bedeutung, so wurde das beschlossene Vorhaben ausgeführt, denn Jedermann war von dem Gelingen überzeugt; fand sich ein Widerspruch oder ein ungünstiges Zeichen, so ward das Volk muthlos und der Plan aufgegeben.

Adam von Bremen, welcher im Jahre 1018, also 70 Jahre später als der Bischof Ditmar schreibt, erzählt (II. 11) von jener Stadt, daß sie in neun Theile zerfalle und ringsherum von einem tiefen See eingeschlossen sei, eine hölzerne Brücke gewähre einen Uebergang, da werde blos denen, welche opfern oder Orakel erholen wollen, der Zugang verstattet. Der vornehmste Tempel gehörte dem Radegast, welcher ganz von Gold war und auf einem Lager von Purpur ruhete. Wenn die Stadt zerstört worden ist, weiß man nicht, jedenfalls ist die Annahme, daß der Tempel zu Rhetra gleich nach der Schlacht an der Raca (16. Oktober 955) von Otto I. zerstört und die Bildsäule des Radegast, nebst andern dort gefundenen Merkwürdigkeiten dem Bischof von Brandenburg geschenkt worden sei, mit nichts bewiesen. Der Tempel soll angeblich nach wiederhergestellter Ruhe wieder aufgebaut und zum zweiten Male von den christlichen Völkern im Jahre[409] 1152 zerstört worden sein, allein noch wahrscheinlicher ist es, daß dieser schon 1128 nicht mehr vorhanden war. Es sollen nun aber in jenem Tempel folgende Götterbilder verehrt worden sein: 1) Radegast, eine herkulische nackte Gestalt mit einem löwenartigen Kopfe und völligem Löwenmaule, in der Rechten eine Streitaxt, in der Linken einen Ochsenkopf auf einem Schilde, vor die Brust haltend, auf dem Kopfe eine Gans oder entenähnlicher Vogel; 2) Tara, Donnergott (Thor), nackt mit einem Pfeile; 3) Odin, nackt mit einem Löwenkopfe; 4) Voda (Wodan), ein alter bärtiger Mann in kurzem Rocke, am Hinterkopf mit zwei kleineren Köpfen, auf dem Rocke vorn zwei Schlangen, auf dem Rücken eine; 5) Gestrab, Odins Rabe oder Habicht; 6) Balduri, Balder, der Rathgeber, Sohn Odins, mit drei zum Theil gehörnten Köpfen; 7) Siba, die Gemahlin Thor's, ein weibliches Wesen mit jugendlichem Angesicht, in der einen Hand eine Weintraube, in der andern einen Affen, die Göttin des Lebens und der Fruchtbarkeit; 8) eine ungenannte Göttin mit einem ähnlichen jugendlichen Gesichte, aber einem auf der Brust angebrachten Mannskopfe; 9) Razivia, eine nackende jugendliche Figur mit Schlangen an der Brust; 10) Siebog, ein keckes, freundliches Gesicht eines Frauenzimmers mit starken, in Locken gewundenen Haaren, einen gekrönten Adler mit ausgebreiteten Flügeln auf dem Kopfe; 11) Tsibas, eine nackte, der vorigen ähnliche Gottheit, nur mit einem Hundskopfe und hängenden Ohren; 12) Hela, die nordische Todesgöttin, mit einem Löwenkopfe, dessen Maul offen ist und die Zunge herausstreckt, sonst aber bekleidet; 13) Prove, ein Richter im langen Rocke mit dem Zeichen der Klugheit, einer Schlange auf der Brust und einem Probeeisen in der Hand; 14) Percunust, ein bekleideter Mann mit langem Bart und Knebelbarte, sein mit einer Sturmhaube bekleideter Kopf ist mit (10) Strahlen umgeben; jedenfalls der Litthauische Donnergott; 15) Nemisa, ein Gott der Rache, ein bärtiger Mann in kurzem Rocke, auf jeder Seite des Kopfes zwei Strahlen, auf demselben ein Flügel, vor dem Bauche ein Vogel, der mit dem Rücken auf dem Kleide liegt, in der rechten Hand hält er einen dreieckigen Stab, der neben den rechten Fuß gestützt ist, auf der linken einen Vogel; 16) Schwayxtix, ein Mann mit einem Hundsgesicht, mit einem Unterkleide, worüber ein Panzer, über Brust und Schulter eine Decke, um den Leib ein Gehenk, an welchem ein breites Schwert herabhängt; 17) Zislbog, das Bild des Mondes, ein Mann mit faltigem Rocke, bartlosem, dickem Gesichte, ein Viertelmondsbild quer auf der Brust, ein anderes auf dem Rücken; 18) Kricco, der Rathgeber, eine preußische Gottheit; 19) Podaga, der Gott der Witterung, entweder als Bild eines Greises mit breiter Nase und dicker Lippe und spitzem Hute, oder mit einem löwenähnlichen Gesichte, neben sich ein Schwein; 20) Ipabog, der Jagdgott, ein bekleideter Mann mit ungeheurem Kopfe, Knebel- und langem Kinnbarte, Strahlen um das Gesicht, eine Sturmhaube mit zwei Hörnern auf dem Haupte; 21) Opora, Göttin des Herbstes, ein nackter Knabe, die Linke, einen Apfel tragend, auf dem Rücken, in der Rechten einen belaubten Zweig haltend, der oben sein Haupt bedeckt; 22) Suantevit, ein gewaffneter Mann mit vier Köpfen und einem fünften mit langem Barte auf der Brust, im Arme das Füllhorn des Friedens; 23) Misizlav, ein bekleideter Mann, der auf einer Sackpfeife spielt und am Gürtel eine doppelte Hirtentasche trägt; 24) Rugivit, eine[410] nackte Figur mit sechs Köpfen, davor eine weibliche, auf der Brust ein Löwenkopf; 25) Karevit, eine nackte Figur, am gestrahlten Kopfe zwei Gesichter, an der Brust ein Ochsenkopf, am Unterleib ein Hahnskopf; 26) Hirovit, eine bekleidete jugendliche Gestalt mit vier Hörnern auf dem Kopfe und ringförmig vereinigten Beinen; 27) Marovit, eine Figur mit einem Löwenkopfe und blumigem Rocke, sonst aber ohne alle Gliedmaßen (der Alp, Mar); 28) Gilbog, eine nur aus einem Oberleibe bestehende unbekleidete, aber geschürzte Figur mit einem Ochsenkopfe; 29) Juthrbog, der Gott der Morgenröthe, ein bärtiger Kopf; 30) Urii, ein bärtiger Gott; 31) Pya, ein grimmiger Löwe mit aufgesperrtem Rachen, bekannter unter dem Namen Zernebog; 32) Mita, ein liegender Bullenbeißer mit offenem Maule, langem Schwanze und einem Halsbande; 33) Berstuc, ein Waldgeist in Bocksgestalt, der Kopf mit einer spitzen Hundeschnauze, der linke Fuß mit einem Pferdehufe; 34) Sicksa, ein liegender Stier mit einem Menschengesichte; 35) Gudii, ein grasender Hirsch.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 408-411.
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