442. Die Hirtin vom Rugard auf der Insel Rügen.

[471] (S. Pröhle, Deutsche Sagen. Berlin 1863 S. 99.)


Auf der östlichen Seite von Rügen steigt der Rugard zu 340 Fuß Höhe auf. Er bietet eine herrliche Aussicht dar. Hat man ihn erstiegen, so bilden nach Süden den reizenden Vordergrund ergiebige Getreidefelder, auf kleinen Flächen reifender Roggen und grünende Gerste, blühende Erbsen- und Kartoffelfelder im bunten, blühenden Gemisch. Fernhin erhebt sich der hohe mit Tannen bewachsene sogenannte Schloßhof von Putbus. Aus waldigen Umgebungen schimmern anmuthig die Gebäude zu Putbus. Eine Insel wechselt mit einem dunkel bemoosten Kirchthurm. Oestlich scheint ein schmales glänzendes Band Rügen mit Jasmund zu verbinden. Zwischen Rügen und Jasmund liegt ein wunderliches einziges Gemisch von Inseln, waldigen Vorgebirgen und Meereswindungen. Ueber Jasmund hinaus ziehen die weißen Segel der Kauffahrer auf der unermeßlichen Ostsee.

Am Abhange eines Hohlweges nahe beim Rugard liegt ein Stein, in den ein Peitschenhieb und die Fußspur eines Mädchens eingedrückt sein soll. Ein wollüstiger Höfling der Fürstenburg traf einst eine schöne Hirtin an, die ihre Heerde in der Einsamkeit nahe beim Rugard weidete. Das Mädchen mußte vor ihm fliehen. Als sie eben im Begriffe war, über den Hohlweg auf einen an der entgegengesetzten Seite liegenden Stein zu springen, rief ihr der nahe Verfolger zu: »So wenig als die Spur ihres Fußes sich dem Steine eindrücken und so wenig als sie mit ihrer Peitsche eine Vertiefung in den Stein hauen könne, eben so wenig werde sie ihm entkommen.« Das Mädchen sprang, hieb im Sprunge mit der Peitsche auf den Stein, und siehe, ihre Fußspur war dem Steine eingedrückt, der Peitschenhieb hatte eine Vertiefung im Steine hervorgebracht und sie selbst war gerettet.

Andere75 erzählen fast entgegengesetzt: Am Rugard habe täglich ein junges schönes Schäfermädchen ihre Heerde geweidet, das sei auf Gottes Erdboden so verlassen gewesen, daß sie auf der ganzen Welt keine treue Seele gehabt habe, außer ihrem klugen Schäferhund. Bald aber fand sich ein junger und reicher Ritter ein, verliebte sich in sie und wollte sie freien. Sie meinte, er habe sie zum Besten, allein er wollte sich nicht abweisen lassen. Endlich sprach sie: »Ein Zeichen muß über unser Schicksal das erste und letzte Urtheil fällen«, und ließ sich versprechen, daß er es in jedem Falle durch die That anerkennen wolle. Da sprach das Mädchen weiter: »Wenn ich an die Redlichkeit Eurer Absichten glauben soll, Herr Ritter, so muß mein Fußtapfen und die Pfoten meines Hundes sich als Merkmal und Zeuge für immer in diesen Stein eindrücken.« Damit sprang sie auf den Stein und der treue Schäferhund sprang ungerufen ihr nach. Aber das Alles begleitete der Ritter mit so heißen und treuen Gedanken, daß von[471] Stund an das verlangte Zeichen an dem Steine zu sehen war und noch heute von der nachmals zwischen dem Ritter und dem Schäfermädchen abgeschlossenen glücklichen Ehe Zeugniß ablegt.

75

Verschieden bei Freyberg, Pomm. Sagen S. 111 u. 232.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 471-472.
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