630. Die goldene Wiege.

[596] (S. Temme S. 235.)


Die alte Ordensburg Schlochau, von der freilich eigentlich jetzt nur noch bloße Trümmer übrig sind, war sonst eine Vormauer gegen Polen und Pommern und sehr fest. In ihrer Nähe befindet sich ein freundliches Lustwäldchen, sonst die Kujawe, jetzt Luisenhöhe genannt. Während der Polenherrschaft war hier der Sitz eines Starosten, und als nun einst dieselbe an einen Radziwil kam, fällte man zufällig einen in der Nähe des Schlosses[596] stehenden Baum, der inwendig hohl war und eine Pergamentrolle enthielt. Der Schloßverwalter entzifferte, ohne irgend Jemandem von seinem Funde ein Wort zu sagen, die darauf befindliche, fast unleserliche Schrift. Sie lautete:


Kommst du zur ersten Bruck, so sollst du gehen rechts,

Kommst du zur zweiten Bruck, so sollst du gehen links

Und wo drei Steine aufrecht stahn

Da liegt der Schatz begraben.


Er verfolgte den angedeuteten Weg und fand auch wirklich eine Stelle in der Mauer, wo drei Steine statt wagerecht lothrecht eingemauert waren. Als er nun die Mauer hier durchbrach, kam er in ein Gewölbe, wo er einen mächtigen Schatz an Gold, Edelsteinen und Perlen und unter demselben eine Wiege ganz voll gediegenem Golde und mit kunstreichen Verzierungen bedeckt fand. Da er, hätte er seinen Fund kund gethan, denselben an seinen Herrn hätte abliefern müssen, so verschwieg er ihn und Niemand erfuhr etwas davon. Da beging einmal der Fürst eine Kindtaufe, und der Verwalter machte sich in Begleitung zweier Reisigen auf, die Wiege zu holen, um sie dem Neugebornen als Angebinde zu verehren, indem er glaubte, so könne er am Besten den Zorn seines Herrn begütigen, wenn derselbe die Sache erführe. Allein dem war nicht so, als dieser fragte, wo das Geschenk her sei und er ihm nun Alles haarklein berichten muß, ward derselbe sehr zornig, ließ ihn fesseln und ins Gefängniß werfen. Allein der Verwalter hatte noch so viel Zeit einen seiner zwei Begleiter zu benachrichtigen. Dieser ritt Tag und Nacht, so daß er den zur Abholung des Schatzes geschickten Dienern des Fürsten zuvor kam, und als diese anlangten, war bereits der ganze Schatz in dem Schloßsee versenkt. Dort ruht er noch, der Verwalter aber mußte seine Unterschlagung mit dem Leben büßen.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 596-597.
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