771. Die Thurmkrone.

[688] (Nach Enslin S. 82 etc.)


Der Dom oder die St. Bartholomäuskirche in Frankfurt a.M. ist diejenige Kirche, wo sonst die deutschen Kaiser gekrönt wurden; früher befand sich an der Stelle, wo sie jetzt steht, eine von Karl dem Großen erbaute Marienkapelle, die später hier errichtete Kirche nannte Karl der Dicke Salvatorskirche, nachdem aber im Jahre 1238 dieser Kirche die Hirnschale des h. Bartholomäus geschenkt worden war, hieß man sie Bartholomäuskirche. Ueber dieselbe erhebt sich ein 260 Fuß hoher Thurm, der sogenannte Pfarrthurm, der aber keine Spitze hat, die er doch eigentlich hätte bekommen sollen. Der Grund, warum dies nicht geschehen ist, war folgender.

Der Baumeister des Pfarrthurms und der Baumeister der Sachsenhäuser Brücke wetteten mit einander um eine hohe Summe, wer sein Bauwerk zuerst fertig bekommen werde. Der Brückenbaumeister aber hatte das seinige schon vollendet, als der Thurmbaumeister erst so weit gelangt war, wie der Thurm gegenwärtig noch in die Höhe ragt. Da nun Letzterer nicht so viel Geld hatte um die verlorene Wette zu bezahlen, so stürzte er sich von der Höhe desselben herab und brach den Hals. Aus diesem Grunde ist er nun auch nicht fertig gebaut worden, sondern hat nur eine Kugel bekommen, die einer fest über den Kopf gezogenen Kappe oder einem einfachen Helme gleicht. Ob nun wohl im Jahre 1512 dieser Thurm bis zur Schlußpyramide fertig war, und Maximilian II., der erste deutsche Kaiser, der hier gekrönt worden, dies erst im Jahre 1562 ward, so soll doch die Kappe, welche der Thurm trägt, auf die Kaiserkappe des heiligen römischen Reiches hindeuten und die Kirche, welche die Krönungskirche sein sollte, gewissermaßen krönen. Leider ist im Jahre 1848 diese Kuppel durch jene ihr aufgesetzte häßliche riesige gläserne Laterne, welche so groß ist, daß mehrere Menschen darin Platz haben und dazu bestimmt ist, bei Aufruhr u. dergl. Feuersignale in die Ferne zu geben und vom Volke spottweise die Reichslaterne genannt ward, gänzlich verunziert worden.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 688.
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