801. Räderberg.

[711] (S. Bechstein, Deutsches Sagenbuch S. 67.)


Auf dem Räderberge120 ohnweit Nassau soll vor Zeiten ein Kloster gestanden haben, davon man noch einige Trümmer sieht, aber Niemand weiß, weß Ordens es gewesen ist. Da ging einst ein Metzger aus Nassau gegen Abend[711] aus, Vieh einzukaufen und wandelte auf der Landstraße dahin, vor ihm aber fuhr eine Kutsche und er folgte ihr immer nach und hatte des Weges nicht Acht. Auf einmal hält die Kutsche vor einem großen schönen Landhause, das dicht an der Straße steht, das aber der Metzger sich nicht entsinnen kann, je hier gesehen zu haben, so oft er auch des Weges schon gekommen. Das Haus war hell erleuchtet und aus der Kutsche sah der Metzger drei Mönche steigen, welche in das Haus hineingingen, und da er vermeinte, es sei das Haus ein Gasthaus, so folgte er ihnen ebenfalls nach, um des Hauses Gelegenheit zu erkunden und vielleicht da Herberge zu suchen. Er sah die Mönche in ein Zimmer gehen, wo ein Sterbender zu liegen schien, der ihrer harrte, um die Sterbesacramente zu empfangen, und dann trat er in einen großen Speisesaal, wo, so schien es, viele Gäste beisammen saßen, aßen und ziemlich lärmend zechten. Als der Metzger eintrat, verstummten alle, aber der obenan Sitzende erhob sich und brachte dem Metzger einen Becher zu mit den Worten: »Noch einen Tag!« Den Metzger überlief es kalt bei der Stimme, die er hörte und aller Durst verging ihm, da erhob sich ein Zweiter, trat an ihn heran, gleich wie jener, bot ihm einen Becher zum Trinken und sagte auch: »Noch einen Tag!« Aber der Metzger dankte. Da erhob ein Dritter sich, kam und sagte: »Noch einen Tag!« Jetzt trank der Metzger und that Bescheid, um nicht unhöflich zu erscheinen, als ein Vierter auf ihn zukam und ihm in gleicher Weise anbieten zu wollen schien. Da wurde es dem Metzger ganz unheimlich, er schlug ein Kreuz vor sich hin und plötzlich war alles hinweg, er stand in tiefer Nacht ganz mutterseelenallein, und wußte nicht, wo er war, um ihn war Waldgestrüpp und altes Gemäuer. Zitternd und bebend erharrte der Metzger an der wüsten Stätte den Morgen, und als dieser anbrach, nahm er wahr, daß er auf dem Räderberg sei, von der Landstraße weit, weit abgekommen, mitten in den Trümmern des verfallenen Klosters. Auf unbegangenem steinigen Wege fand der Metzger sich zurück, unterließ seinen Geschäftsgang und ging vielmehr zum Pfarrer und entdeckte ihm, was ihm geschehen war. Genau nach drei Tagen war der Metzger todt.121

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Ich weiß nicht, ob die Trümmer einer sogenannten Räderburg bei Hausen, welche in dem sogenannten Räderwalde eine halbe Stunde südöstlich oberhalb des Dorfes Rosberg und eine Viertelstunde von dem großh. hess. Dorfe Hoingen liegen und in d. Zeitschr. f. hess. Gesch. Bd. IV. S. 236 etc. beschrieben werden, hiermit identisch sind.

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Ganz ähnlich ist die Sage vom Schlosse Ardeck, unter Nr. 806.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 711-712.
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