932. Lollus und das Lullusfest in Hersfeld.

[792] (S. Wolf, Hess. Sagen S. 141. Lyncker S. 224 etc.)


Ein Mann hinterließ bei seinem Tode zwei Söhne und ein ziemliches Erbe, der eine Sohn wurde ein Mönch, der andere ein Gasthalter. Der letztere verheirathete sich und dachte nur daran, wie er bald reich werden könne; der leichteste und kürzeste Weg schien ihm aber hierzu der Betrug. Darum übervortheilte er seine Gäste, gab zu geringes Maß an Bier und Wein, stahl den Pferden den zugemessenen Hafer wieder aus der Krippe und was dergleichen Streiche mehr sind. Trotzdem hatte er aber keinen Segen, er kam vielmehr immer mehr zurück als vorwärts. Eines Tages besuchte ihn sein Bruder, der Mönch, und forderte sein väterliches Erbtheil heraus. Da bat der Wirth und flehte, er möge doch noch Geduld haben und warten, da er mit seiner Frau und Kindern eben in der größten Noth stecke, ohne daß er doch wisse, wie das zugehe, denn er plage sich vom Morgen bis in die Nacht und verschmähe keine Art, Geld zu gewinnen, wenn es auch nicht immer dabei mit rechten Dingen zugehe. Da antwortete der Mönch: »Lieber Bruder, hältst Du also Haus, dann ist es um Deine Nahrung geschehen, denn Du beherbergst einen Gast, welcher all das Deinige verzehrt. Wenn Du ihn gerne sähest, so gehe mit mir in den Keller und ich will ihn Dir zeigen.«

Dies geschah, in dem Keller sprach der Mönch seine Beschwörung und rief alsdann: »Lolle, gehe herzu.« Alsbald ließ sich hinten im Keller ein greuliches, dickes, ungeheueres Thier sehen, so feist, daß es nicht fortkommen konnte. Der Mönch aber sprach: »Ich meine, Du habest eine gute Herberge gehabt«, und fuhr dann zu seinem Bruder gewendet fort: »Siehe dieses Thier hast Du also mit Deinem Betrug gemästet, denn was Du den Leuten entzogen, das hat dieses verzehrt. Darum folge fortan meinem Rath und handle treulich und aufrichtig an den Leuten und übervortheile Niemanden, ich will alsdann noch vier Jahre mit der Theilung Geduld haben!« Diesem Rathe folgte der Bruder und seine Nahrung nahm von Tag zu Tag zu. Nachdem die vier Jahre verstrichen waren, kam der Mönch wieder, um zu sehen, wie es um seinen Bruder stehe. Dieser empfing ihn fröhlichen Herzens, dankte ihm für den guten Rath und bat ihn alsdann, das Thier im Keller noch einmal zu beschwören und ihm noch einmal zu zeigen. Der Mönch that das gern, aber das Thier war so mager und dürr geworden, daß es vor Mattigkeit kaum mehr fort konnte. Da sprach der Mönch: »Sieh, lieber Bruder, Dein Gast muß jetzt wandern und einen andern Herrn suchen, denn hier kann er nicht länger bleiben. Fahre nun fort, wie bisher, Jedem das Seine zu geben, dann kann der Segen für Dich nicht ausbleiben!«

Mit diesem Lollus, der wohl von einem altfränkischen Gott138 gleiches Namens herkommen mag, hat nun aber trotz der Aehnlichkeit des Namens das zu Hersfeld bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts am 16. Oktober jedes Jahres gefeierte Lullusfest nichts zu schaffen. Dieser Tag ist nämlich der Gedächtnißtag des Stifters und Gründers von Hersfeld, des Erzbischofs Lullus von Mainz († 787). Dieser Tag und die ganze Woche wird hier als eine Art Kirchweihfest gefeiert. Schon ehe das Lullusfest begann, ertönte[793] auf den Straßen den Tag vorher der Ruf: »Bruder Lolls!« oder »Lolls!« Am Lullusmontage ward eine Breterbude auf dem Markte erbaut, ein großer Holzstoß vor derselben aufgerichtet und ein angemessener Vorrath von Getränken herbeigeschafft. Dies mußte aber alles im Laufe des Vormittags geschehen, so wie die Uhr die Mittagsstunde verkündete, begann das Fest, der Holzstoß ward angezündet, die Glocken der Stiftskirche läuteten die Freiheit des Kirchweihmarktes ein und das Geschrei »Lolls, Lolls, Brodr Lolls!« erfüllte die Luft. Jetzt erschienen in der Bude, von rauschender Musik empfangen, die beiden Bürgermeister von Hersfeld, der städtische Wagemeister, welcher in einen blauen Mantel gehüllt war, und der Stadtdiener, dieser einen Sack Nüsse auf dem Rücken tragend. Während sich die drei erstern zu einem für sie bereitgehaltenen Mahle niedersetzten, warf der letztere seine Nüsse in den wildjubelnden dichten Schwarm der Stadtjugend, welche ungeduldig dieses Augenblicks harrte und sich nun auf die Nüsse warf und um dieselben prügelte. Dies dauerte bis 1 Uhr, dann begann in der Bude der Tanz. Das Feuer ward inzwischen Tag und Nacht erhalten, erst in der Nacht vom Dienstag zum Freitag ward dasselbe ausgelöscht, die Bude abgebrochen, aber die Lust bis zum Sonntag fortgesetzt. Die am Lullusmontage in die Bude gebrachten Getränke wurden für städtische Rechnung verkauft, Bäcker und Fleischer waren, sobald die Freiheit eingeläutet worden war, an keine Taxe mehr gebunden und alle Getränke durften frei in die Stadt gebracht werden. Auch sämmtliche Dörfer im Amte Hersfeld feierten ihre Kirchweihen in derselben Woche und mußten die Musikanten dazu aus der Stadt abholen.

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S. Bechstein, Fränkischer Sagenschatz Bd. I. S. 25.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 792-794.
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