1095. Das geopferte Huhn.

[892] (Nach Seifert I. S. 42.)


Auf dem Lamberti-Kirchhofe zu Hildesheim liegt ein Schatz vergraben, der brennt alle 99 Jahre in der heiligen Christnacht. Aber nicht Jeder kann ihn sehen. Wer ihn brennen sehen will, muß mit einem kohlschwarzen Huhn dreimal um die Kirche gehen und sich durch nichts irre machen lassen. Ist man zum dritten Male herumgekommen, so schlagen die Flammen lichterloh aus der Erde, dann muß man das Huhn dem Bösen opfern und rückwärts sehend in die Flammen werfen. Nun war aber vor langen Jahren eine Frau auf der Knollenstraße, die wußte das und wollte den Versuch machen, den Schatz zu heben. Sie nahm also in der Christnacht ein kohlschwarzes Huhn, das sie sich aufgezogen hatte, unter den Arm und ging auf den Lamberti-Kirchhof. Nachdem sie drei Vaterunser gebetet hatte, fing sie ihren Gang an. Als sie nun zum ersten Male an die Ecke kam, wo die Sacristei ist, hätte sie bald vor Schreck das Huhn fallen lassen, denn an der Ecke stand ein längst verstorbener Nachbar und sagte: »Guten Abend, Liesbeth, nimm mich mit, mich friert's.« – »In Gottes Schooß ist es warm«, sagte die Frau und ging weiter. Da flogen blaue Funken aus der Erde, auf der Stelle, wo der Schatz lag. Die Frau ging nun zum zweiten Male herum, und als sie an die Stelle kam, wo der todte Nachbar lag, da bebte ihr erst recht das Herz, denn jetzt stand ein kohlschwarzer Hund mit glühenden Augen da, der that seinen Rachen auf und rief: »Nimm mich mit, mich friert's« – »In der Hölle ist es heiß«, antwortete die Frau und ging weiter. Nun schlugen helle Flammen an der Stelle empor, wo der Schatz lag, und die Frau dachte: »Gottlob, nun brauche ich nur noch einmal herum!« Sie trat nun auch den dritten und letzten Gang an, da stand auf einmal auf der gefährlichen Stelle der Böse selbst und brüllte: »Nimm mich mit, nimm mich mit, sonst bist Du mein!« – »Das Huhn ist Dein!« rief die beherzte Frau, lief ohne sich umzusehen, auf die hellen Flammen zu, die jetzt über dem Schatze aus der Erde flackerten, und warf das Huhn in die Gluth. In demselben Augenblicke aber war Alles verschwunden, und der Frau wurde es in der stockfinstern Nacht mit einem Male so grausig, daß sie sich nicht weiter nach dem Schatze umsah, sondern so schnell sie konnte, nach Hause lief und sich tief unter die Bettdecke verkroch.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 892-893.
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