1126. Der Rattenfänger zu Hameln.

[909] (S. Neues Vaterl. Hannöv. Archiv Bd. XII. S. 262 etc. Sprenger, Gesch. v. Hameln S. 23 etc. C.F. Fein, Die entlarvte Fabel vom Ausgange d. Hamelischen Kinder. Ham. 1749 in 4. Kirchmayer, Hist. v.d. unglückl. Ausgang d. Hamelnschen Kinder. 1702 in 8°. [u.b.d. vollständ. Liter.]. Daumer, Die Geheimnisse d. christl. Alterth. Bd. I. S. 242 etc.)


In einer gar lustigen und anmuthigen Gegend nahe an dem berühmten und fischreichen Weserstrom liegt die alte Stadt Hameln. In dieser Stadt nun hat sich im Jahre, als man schrieb 1284 (nach Andern 1282 oder 1378) eine unerhörte Geschichte zugetragen, welche den Eltern eine mahnende Warnung sein sollte, ihrer Kinder fleißig wahrzunehmen und sie in der Furcht Gottes zu erziehen.

In dem genannten Jahr wurde diese Stadt Hameln ungemein belästigt von Mäusen, Ratten und dergleichen Ungeziefer, also daß keine Stube noch Kammer, kein Keller noch Hausboden war, den solches Geschmeiß nicht verunreinigte oder beschmutzte. Die angewandten Mittel dagegen, Fallen mancherlei Art, Katzen und gestelltes Gift, wollten nicht verfangen und die Bürger konnten sich des Ungeziefers kaum erwehren, was Allen eine große Plage war. Da erschien eines Tages ein Mann, gar wunderlichen Angesichtes, so daß man sich schier nichts Gutes hätte versehen mögen bei seinem Anblick, der gab sich für einen Rattenfänger aus, wie wohl deren hier und da die Länder durchziehen, und versprach, gegen Erlegung eines gewissen Geldes die Stadt in kurzer Zeit von allem solchen Ungeziefer zu befreien. Die bedrängten Bürger nahmen mit Freuden diesen Vorschlag an und versprachen ihm den verdungenen Lohn auszuzahlen, hätten wohl auch noch mehr gegeben, des lästigen Geschmeißes ledig zu werden. Alsbald zog der Mann durch die Gassen und pfiff ein wunderliches Lied, auf einer Pfeife, worauf die Ratten und Mäuse zusammenliefen aus Scheuern und Böden, aus Häusern und Ställen, und mit lustigen Sprüngen dem Schall des Liedes nachfolgten. Dann zog er mit ihnen hinaus an den Weserstrom, in den sie sich allesammt stürzten und darin elendiglich ertranken.

Als dies die Bürger von Hameln sahen, erschraken sie Alle und entsetzten sich über diese unnatürliche Sache und meinten, der Abenteurer müsse ein Schwarzkünstler oder Zauberer, oder wohl gar der Teufel selber sein. Da war es ihnen leid, daß sie mit diesem verruchten Buben etwas zu schaffen gehabt, und sie wollten sich keineswegs zur Zahlung verstehen und verweigerten ihm den gedungenen Sold. Darüber ergrimmte der fremde Mann und verzog im Zorn sein Gesicht auf gräßliche Weise, drohte auch den Bürgern allen ohne Scheu, daß sie solches Thun gar bald gereuen würde, denn er wolle sich gröblich rächen, weil man ihm seinen verdienten Lohn vorenthalte. Er verübte auch seine Rache, wie folgt.

Am folgenden Tage, als am 26. Julius des 1284sten Jahres, fiel das Gedächtniß der römischen Märtyrer Johannis und Pauli ein, und die Bürger der Stadt Hameln saßen allesammt in der Kirche, das göttliche Wort zu hören zu ihrer Erbauung. Da erschien der Abenteurer auf der Straße, angethan mit einem bunten Rocke, der gar seltsamlich von allerlei Farben zusammengesetzt war, und auf dem Haupte trug er ein wunderliches Baret mit großer Feder. Und er durchzog die Gassen der Stadt und blies dabei gar lieblich auf einer großen Pfeife, wohl verschieden von jener ersten, die[910] er künstlich zu greifen verstand, und trieb dabei gar abenteuerliche Possen und machte allerlei Geberden. Und die Kinder kamen mit Haufen zugelaufen, den wunderlichen Spielmann zu sehen und erhoben vor Freuden ein großes Geschrei. Als er nun hundert und dreißig Kinder, so Knaben und Mädchen, zusammengeblasen hatte, ging er flötend und allerlei Kurzweil treibend vor ihnen her zur Stadt hinaus durch das Osterthor und die Kinder folgten dem Klange der Pfeife nach bis an den Köpfelberg, der gegen Morgen an der hannöverschen Straße gelegen ist. Sobald er mit seiner unschuldigen Heerde an diesen Ort gelangte, befahl er dem Berge sich aufzuthun, und da solches geschehen, ging er mit allen Kindern hinein und ist hernach nicht wieder gesehen worden.

Diese traurige Botschaft überbrachten zwei Kinder, die von den hundert und dreißig wieder umgekehrt waren, weil sie dem Klange der Musik nicht so geschwinde hatten folgen können. Durch die Gewalt des bösen Zauberers kehrte aber das eine dieser Kinder stumm und das andere blind zurück. Das stumme Kind zeigte mit den Fingern den Ort und die Gegend an, wo der Spielmann mit den Kindern hineingegangen war. Andere aber wollen behaupten, ein Kindermägdlein sei mit einem kleinen Kinde auf dem Arme dem Zuge gefolgt, und habe von fern zugesehen, wo die Kinder mit einander hingekommen wären. Dieses Mägdlein sei alsdann ganz erschrocken nach der Stadt geeilt und habe daselbst offenbaret, was sie mit ihren Augen gesehen. Da die höchst bestürzten Eltern diese Trauerpost vernahmen, liefen sie haufenweise dem Berge zu und suchten mit Fleiß und betrübtem Herzen ihre Kinder; und es erhob sich darüber sonderlich unter den Müttern ein jämmerliches Heulen und Schreien, und die beweglichsten Klagen wurden gehört. Man fand aber nichts als eine verfallene Grube, die man für den Eingang in den Berg hielt, durch den der böse Spielmann verschwunden war. Nach der Zeit haben diese bekümmerten Leute zu Wasser und zu Lande an die Orte geschickt und nach ihren Kindern aufs Fleißigste forschen lassen; es ist aber alle angewandte Mühe nicht zulänglich gewesen, das Allergeringste von ihnen zu erfahren. Denn was Einige gedichtet haben, wie diese Hamelnschen Kinder im Siebengebirge aus den Klippen herausgekommen seien, sich allda niedergelassen und ihre Sitten, Gebräuche und Sprache beibehalten haben, das wird mit Recht für ein Märchen gehalten. Daß dieses traurige Wunder in Wahrheit also ergangen, bezeugt noch jetzt die ganze Stadt Hameln und man findet die Geschichte dieses Kinder-Ausgangs in das Stadtbuch eingezeichnet, auch ist sie nach dem Leben in mancherlei Bildwerk in Holz und Stein und farbigen Schildereien in der Stadt Hameln zu sehen bis auf den heutigen Tag.

Eine geraume Zeit haben hernach die Hamelner ihre Jahrzahl nach dem Ausgang ihrer Kinder gerechnet und ihre Documente und Briefe darnach datirt. Es wurde auch mehrmals angeordnet, daß die Einwohner bei Hochzeiten, lustigen Gelagen und andern Freudentagen durch die ganze Stadt in allen Straßen die Musik sollten erschallen lassen, außer in der Straße, wo die Kinder hindurchgeführt worden, sollte kein Spielwerk oder Trommel (welche in dortiger Sprache Bunge genannt wird) erschallen. Daher wurde diese Gasse die bungelose Gasse genannt, wie sie noch jetzt heißt. Heutzutage ist der eingesenkte Ort des Eingangs mit Dornen bewachsen und es standen ehedem zwei Kreuze davor, so die Alten zum Gedächtniß solcher betrübten Begebenheit[911] dahin gesetzt hatten. Auf diesen Kreuzsteinen sah man weiter nichts als etliche eingehauene Rosen und die Jahrzahl. Doch sind nachher diese Kreuze ganz verstümmelt und zernichtet worden, weil die reisenden Leute, so von fernen Orten dahingekommen und vorübergezogen, zum Oeftern ein Stück davon abgeschlagen und zum Gedächtniß mit sich geführt haben.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 909-912.
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