1316. Der Brutsee.

[1063] (S. Müllenhoff S. 109.)


Ganz nahe bei Schleswig neben dem Wege nach Moldenit liegt ein kleiner schöner See, der Brutsee. In alten Zeiten war er ganz von Wald umgeben und ein Dorf lag daran, das zu St. Jürgen in Schleswig eingepfarrt war. Hier wohnte einmal ein reicher Bauer, dessen schöne Tochter einen armen Knecht liebte und ihm Treue gelobt hatte. Aber der Vater wollte sie einem reichen Hufner geben und die Hochzeit ward auf den Pfingsttag angesetzt. Zum letzten Male sahen sich am Abende vorher die Liebenden an dem großen Steine, der noch jetzt am Ufer des See's liegt. Als nun am andern Morgen Braut und Bräutigam mit ihren Verwandten über den See fuhren, ertönte plötzlich die Todtenglocke, wie es Sitte ist, wenn einer gestorben ist. In demselben Augenblicke erhob sich ein gewaltiger Wirbelwind, das Boot schlug um und alle ertranken. Die Leichen fand man bis auf die der Braut; sonst hätte man sie mit ihrem alten Liebsten begraben, dem das Läuten gegolten hatte. Aber in jeder Pfingstnacht steigt nun ein wunderschönes Mädchen in prächtigen Kleidern aus dem See, setzt sich auf jenen Stein und kämmt singend ihr langes goldenes Haar bis der Morgen graut. Dann verschwindet sie wieder im See, der nach ihr der Brutsee heißt.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 1063.
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