II. Pilgerfahrten

[73] Zu einem runden Gesamtbild seines Gehalts über Ton und Wort hinaus kommt George erst im Algabal. Die Pilgerfahrten sind dazu der Übergang, noch wechselnd zwischen rhythmischen Ausklängen der Erregungen, landschaftlichen Spiegelungen der Zustände und Geberdenbildern der Gesinnung. Schon der Titel ist bildhafter als das abstrakte »Hymnen«, und zum erstenmal begegnen wir in Georges Werk einer Selbstschau des eigenen Daseins, der Stilisierung seiner Gestalt. In den Hymnen bereits empfindet er sich in dritter Person – der erste Schritt aus dem bloßen Innen-ich hinaus in den objektiven Raum –, aber noch begnügt er sich dort mit Situationen oder Geberden und die Gestalt ist mehr gefühlt als geschaut .. die Lyrik, der Drang des Ich wird noch nicht Vision und hält noch nicht Sicht und Raum genug um sich herauszustellen, dar-zustellen: mit der Raum-werdung beginnt erst die Welt-werdung des Ich ... und mit der Selbstschau1 der Blick in das Gesetz und das Schicksal. In den Hymnen ist das Selbst noch unbestimmt, gattungshaft, ohne Eigenschaft und Personalität: der Dichter, der Jüngling, der Liebende[73] – wo es sich verdeutlichen will da lugt es schüchtern noch durch fremde Medien, wie das Bild des Infanten, oder durch schleirige Ferne, wie am Ende der »neuländischen Liebesmahle«:


Mir dämmert wie in einem zauberbronnen

Die frühe zeit wo ich noch könig war.


Erst der Schlußvers der Hymnen ruft eine bestimmtere Gestalt, die nicht nur ein allgemeines Dasein, sondern ein besonderes Tun und Gebaren vergegenwärtigt: den Pilger. Hier knüpft das zweite Buch an. Die Hymnen geben innere Zustände und Spannungen fast beziehungslos, schicksalslos. Ihr einziges Bildmaterial sind Landschaften oder Situationen. Die Pilgerfahrten bringen bewußt menschliche Erfahrungen.. bereits die Figur des Pilgers setzt Erfahrung, Suche, Wanderung voraus .. und dies ist die erste Erweiterung (zugleich Distanzierung) die erste Versachlichung (zugleich Verdichtung, Konkreszenz) und Steigerung (zugleich Stilisierung) des bisher zuständlich gespannten und befangenen Ichs zum Selbst, zum Es.

Die Aufschrift des Werkes deutet den Ursprung dieser Erfahrung an: den Drang des eingesperrten Ich nach dem Du, den Keim jedes Wirkens, jeder geistigen wie leiblichen Zeugung:


Also brach ich auf

Und ein Fremdling ward ich

Und ich suchte einen

Der mit mir trauerte

Und keiner war.


Die Urzustände der Hymnen, Weihe, Leidenschaft, Scheu, Rausch, die der Seele mitgegeben sind noch vor den Gegenständen, treten durch die Suche heraus und nähren sich mit menschlichen Wirksalen: Erfüllungen, Enttäuschungen, Betäubungen, Erhebungen Erniedrigungen legen eine zweite Schicht seelischer Inhalte um den innersten Spannungskern .. ihr Träger lernt zum erstenmal über das notwendige, einfach gegebene und einfach hinzunehmende So-sein und So-leiden hinaus tun und wählen, nehmen und verwerfen. Indem er sucht, lernt er sehen .. indem er sichtet, lernt er gestalten Er erfährt, ihm widerfährt Schicksal und Gesetz und sein Selbst an ihnen. Das ist der Sinn solcher Gedichte wie »Siedlergang« wie die beiden »Gesichte«[74] wie »Mahnung« – die ersten Bilder von Georges Seelen- und Schicksalsart. Aber auch die anderen Gedichte, die nur Zustände und Spannungen liedhaft oder geberdenhaft austönen, sind schon panoramischer als die Hymnen, das Blickfeld ist weiter, der Blickpunkt höher – überall merkt man schon den Drang fühlbar das eigene Leben als Gesamtheit notwendiger Augenblicke, als Einheit von Leidenschaft, Schau und Schickung zu begreifen, zu umgreifen. Noch ist die eigene Gestalt nicht die bewußte, rundum deutliche Mitte, aber mancher Bogen des Horizonts lichtet sich, und mit dem Träger des Schicksals erscheint zugleich ein Bereich zugehöriger Dinge, ein Beginn gewählter Welt.

Im selben Maße als der Raum weiter wird, wird die Sprache vieltöniger und farbenreicher, die Hingebung freier, die Glut heller, die Andacht klarer. Der Kampf zwischen Leidenschaft und Weihe durchdringt das menschliche Draußen und greift über auf die Natur. Was bisher ein Zwiegespräch der gespannten Seele in sich gewesen das wird sichtbares Ringen zwischen Menschen oder Mächten: die Qual der beherrschten Begier, die Demut des gebrochenen Stolzes, die leid volle Süßigkeit vergeblichen Liebeharrens, die Selbstbetäubung des erschütterten, aber nicht zu entadelnden Herzens, das Gewahrwerden der wunderreichen Ferne und der eigenen Abgründe, das Zusammenraffen unter der fast erdrückenden Last .. Erwartung, Enttäuschung, Überwindung – alles löst sich jetzt und verschmilzt mit einem frisch erschlossenen Sinnenbereich zu einer Einheit von Pracht und Stille, Glut und Entrücktheit, Stäte und Scheu, Geberde und Landschaft die ihresgleichen in deutscher Sprache noch nicht hatte.

Der eigentümliche Zauber solcher Strofen wie »Gesichte« »Mahnung« »Verjährte Fahrten« ist am besten als »monumentale Intimität« zu bezeichnen. (Für beide Seelenwerte gibt es kein entsprechendes deutsches Wort: »Großheit« oder »Erhabenheit« schließt nicht zugleich Gestalt und Gefüg ein, die zum Begriff »monumental« gehören »Vertraulichkeit« »Innigkeit« »Heimlichkeit« bezeichnen mehr Gesinnung und Zustand als Wesensart und Dunstkreis, die bei »intim« mitschwingen – und »lauschig« läßt wieder das geistige vermissen.) »Gestaltige Seelenhöhe« und »sinnenhaftes Geheimnis«: Georges Pilgerfahrten haben beides, weil hier zum erstenmal eine welthaltige[75] Seele ihre eigenste Einsamkeit ohne entgegenkommende Beichte, ohne Gefühlspreisgabe, ohne öffentliche Mittel und Zeichen, in sinnlich gedrungenen Formen dar-stellt. Monumental spricht nur wer über persönliches Erlebnis, Gefühl und Glauben hinaus sich als Gesetz und als Macht kennt und kündet, zugleich begrenzt und entrückt. Intim ist nur wer sein Inneres offenbart ohne sich preiszugeben, ohne herauszutreten aus seinem geweihten Kreis, ohne sich auszuschütten .. wer geschlossen bleibt indem er sich erschließt, wer seinen Raum zeigt indem er ihn umhegt. Dies geschieht nur wo die Seele sinnlich erscheint. Nur die ganz durchseelte Gestalt, nur der ganz durchlebte Raum, nur die ganz versinnlichte erschienene räumliche Seele können zugleich monumental und intim sein. Darum haben öffentliche Kulturen keine Intimität, Privatbildungen keine Monumentalität. Intimität setzt immer einen Wesens-gegensatz zur Gesellschaft, zur gültigen Öffentlichkeit voraus, Monumentalität die Abwesenheit des Privaten. Nur wo in der Geschichte ein Einzelner außer aller Gesellschaft steht und zugleich über sich hinaus ein neues Ganzes, ein Gesetz, einen Raum hegt, ist die Einheit beider Eigenschaften möglich wie bei George.

Auch bei ihm konnte diese Einheit erst entstehen, als er zur Tonwerdung seines Gesetzes (in den Hymnen) die Raumwerdung (in den Pilgerfahrten) gefunden hatte. Die Monumentalität wuchs, die Intimität schwand wo sein Gesetz ins Bewußtsein trat und kündbare Lehre wurde, in dem Maß als sein Seelengesetz aus einer Geheimkraft und einem Geheim-raum eine offenbare Welt, ein »Kosmos« wurde: das beginnt mit dem Vorspiel zum Teppich des Lebens. Die Pilgerfahrten sind auf dem Weg zur Weltwerdung der Übergang vom intimen Ton zum intimen Raum, von Spannung zu Richtung. Durch die Wünsche – landschaftlich ausgeweitete oder geberdlich verdichtete – schimmern jetzt schon die Wunsch-bilder: zarte oder stolze, kindlich schlanke, erhaben hingegebene Frauen, berauschende Wunderlande, liebliche Gehege, dunkel-schaurige Fernen, und ein Königreich für wilden Willen und Traum. Es sind die frühdumpfen noch ausschweifenden und pflichtfernen Vorgefühle des dichterischen Herrsch- und Zauberberufs. George selbst hat empfunden daß die üppigen Gesichte und ungestümen Ballungen seiner[76] ersten Freiheit noch nicht seine wahre Reife seien. In der Bändigung der schweifenden und begierigen Kräfte sah er die höhere Bestimmung, aber noch wußte er sich dazu jetzt nicht sicher genug und machte aus der Not seines noch maß-losen, d.h. einsamen Überschwangs zuerst die Tugend seiner seltsamen Traumpracht. Diesen vorläufigen Verzicht auf die keusche Einfalt der Vollendung meint das Schlußgedicht der Pilgerfahrten:


Die Spange.

Ich wollte sie aus kühlem eisen

Und wie ein glatter fester streif

Doch war im schacht auf allen gleisen

So kein metall zum gusse reif.

Nun aber soll sie also sein

Wie eine große fremde dolde

Geformt aus feuerrotem golde

Und reichem blitzenden gestein.


So kündigt sich Algabal an.

1

Das ist nicht Ichbetrachtung, Spiegelung: diese ist ein Willkürakt, die Selbstschau ein unwillkürlicher Vorgang bei dem man sich als Gesicht wie im Traum erscheint. Sich spiegeln kann man jederzeit .. sein Selbst schauen, sich erscheinen so wenig als man Träume schaffen kann: sie sind Eingebung oder Schickung.

Quelle:
Gundolf, Friedrich: George. Berlin 31930, S. 73-77.
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