Siebenzehntes Kapitel.

Falsches Zeugniß.

[195] Die Tänzerin ging nach der Thür, öffnete sie geräuschlos und sprach einige Worte mit Jemand, der draußen stand und ließ alsdann eine ältliche Bauersfrau in's Zimmer treten, die ziemlich verlegen an der Thüre stehen blieb und die ihre Blicke fragend nach[195] der Madame Becker richtete, welche ebenfalls aufgestanden war und etwas erschrocken auf die Eingetretene sah. Katharine wandte gleichfalls ihren Kopf herum und stieß einen lauten Schrei aus, worauf Madame Becker ungeduldig mit dem Fuß stampfte und einen leisen Fluch zwischen den Zähnen murmelte.

»Da ist die Frau!« sagte das Mädchen, indem sie ihre Augen weit aufriß und die Blässe ihres Gesichts wahrhaft gespenstig wurde. – »Da ist die Frau! – Jetzt werde ich doch etwas erfahren über mein Kind!«

Die Bauersfrau kam ziemlich unbehülflich näher, streckte ihre beiden Hände aus und verwandte kein Auge von dem Gesicht der Madame Becker; that sie das nun, um sich an den Mienen derselben Raths zu erholen, oder scheute sie sich vielleicht, die unglückliche Mutter des Kindes anzusehen.

»Nun?« rief ihr Madame Becker ziemlich eifrig entgegen. – »Was will Sie eigentlich? – Zu mir? – Gewiß zu Katharine. – Da steht sie. Sag' Sie, was Sie weiß. – Ist vielleicht ein Unglück geschehen?«

Die Bauersfrau zog ihre Achseln entsetzlich in die Höhe, wobei sie mit einiger Anstrengung nach dem Himmel hinauf zu schielen versuchte, es aber nur zu einem häßlichen, verdrehten Blick brachte.

Madame Becker zuckte hierauf ebenfalls mit den Achseln und warf einen mitleidig sein sollenden Blick auf die Nähterin, die da stand, ein Bild des Jammers, mit bleichen Wangen, auf denen jetzt allmählig kleine rothe Punkte sichtbar wurden, – die schon erwähnten Kirchhofsrosen, die nun bald in ihrer ganzen schrecklichen Pracht auf dem stillen Gesichte wieder aufflammen sollten.

»So ist dem Kind etwas passirt?« fragte Madame Becker nach einer langen und schrecklichen Pause. »Was hat's da gegeben?« – –

»Todt!« entgegnete die Bauersfrau, ohne daß sie es wagte[196] dem flammenden Blick der Mutter zu begegnen. – »Todt! – todt! – Das Kind ist todt!«– –

In diesem Augenblicke trat die Tänzerin vor und legte ihre warme Hand sanft aus die kalte Rechte Katharinens, schlang ihren Arm um sie und drückte sie in tiefstem Mitgefühl fest an die Brust, die, sein leises Schluchzen unterdrückend, sich hoch und gewaltsam hob und senkte.

»Also todt!« sagte Madame Becker. »Und wie ist das gekommen?«

»Wie kommt das bei so kleinen Kindern!« entgegnete die Bauersfrau, indem sie den Kopf auf die rechte Seite senkte; »vorige Woche noch ziemlich gesund und wohl, gestern Nacht mausetodt. – Hier ist der Schein, Alles in Ordnung ausgestellt. – Ja, es ist traurig aber wahr.«

Katharina blickte mit trockenen und heißen Augen wie in einem tiefen Traume um sich her. Lange schaute sie die beiden Weiber vor sich an, bald die Eine, bald die Andere, und keine konnte diesen Blick ertragen. Dann aber bog sie ihren Kopf leicht zurück und streifte so die glühende Wange der Tänzerin; und es war, als ob diese Berührung eines guten, mitfühlenden Wesens eine Beruhigung über ihre Seele gebracht hätte, denn ein paar Sekunden nachher senkte sie ihren Kopf auf ihre Brust und brach zwischen den Armen des jungen Mädchens zusammen, die sie sanft auf einen Stuhl niedergleiten ließ und dann neben ihr kniete, um ihr Haupt zu unterstützen.

Jetzt erst wagte die Bauersfrau das unglückliche junge Weib anzusehen; doch that sie es scheu und verlegen, machte auch gar keine Miene, der Niedergesunkenen beizuspringen, sondern sagte zu Madame Becker: »Es ist wahrhaftig ein Jammer; aber was kann man machen? Jetzt übersteht sie es auf einmal und sonst wäre es doch für ihr Leben eine immerwährende Last und Plage gewesen.«

Die Angeredete hatte beide Arme auf den Tisch gestützt und[197] blickte in das bleiche Gesicht der Ohnmächtigen. »Ob es besser ist,« sprach sie mit scharfem unangenehmem Tone, »was geht es uns eigentlich an? Geschehen sollt' es und geschehen ist es; und ich hoffe,« setzte sie leise hinzu, »daß Sie Alles gut besorgt hat, Frau, denn es ist im Grunde eine kitzliche Geschichte, für welche Sie den größten Theil empfangen und für welche Sie auch mit Ihrer Haut einstehen muß.«

»Bst! bst!« entgegnete die Bauersfrau, indem sie ihre Augen einen Moment auf die Tänzerin heftete und sich dann der Frau näherte, zu der sie sagte: »Kommt doch da weg, wenn Ihr schwätzen wollt, geht mit in's Nebenzimmer! Ich habe Euch noch allerlei mitzutheilen.«

Damit gingen die beiden Weiber in das andere Gemach und ließen die Tänzerin bei der Unglücklichen allein.

Marie befand sich in großer Gemüthsbewegung; sie athmete schnell und heftig und sandte den beiden Weibern einen forschenden Blick nach. Dann lehnte sie sanft das Haupt Katharinens an die Stuhllehne und eilte in ihr Schlafzimmer, wo sie vom: Bett ein Kissen, von der ärmlichen Toilette ein kleines Fläschchen mit kölnischem Wasser nahm. Das Kissen schob sie unter den Kopf der noch immer bewußtlos Daliegenden, drückte diesen sanft hinein und goß dann einige Tropfen des wohlriechenden Wassers auf ihr Tuch, worauf sie Schläfe und Stirn des armen Mädchens leicht damit rieb.

Das Alles that sie mit einer seltsamen Hast und warf dabei verstohlen die Blicke auf die Thüre des Nebenzimmers, welche Madame Becker nicht fest hinter sich zugezogen hatte. Nachdem sie darauf wieder ein paar Sekunden lang aufmerksam in das bleiche Gesicht der Kranken geblickt, erhob sie sich rasch, als sie sah, wie sich deren Lippen langsam öffneten und ein leichter Seufzer aus der Brust emporstieg. Darauf öffnete Katharine matt ihre Augen und sah die Tänzerin mit einem dankbaren Blicke an.[198]

Maria lächelte ihr zu, zeigte mit der linken Hand auf 's Nebenzimmer und legte alsdann einen Finger der rechten Hand auf ihren Mund, als wollte sie sagen: Stille! sprich kein Wort; mach' kein Geräusch!

Katharine schien das vollkommen zu verstehen und auch wohl zu begreifen, daß dort im Nebenzimmer etwas verhandelt würde, was für sie von großem Interesse sei, denn sie schloß ihre Augen und öffnete sie wieder zur Beistimmung, faßte die Lehne des Stuhls mit ihren Händen und folgte dann mit den Augen der Tänzerin, welche sich geräuschlos und geschmeidig wie eine Schlange um den Tisch herum wandte, an die etwas geöffnete Thüre des Nebenzimmers gelangte, ohne daß man nur einen Fußtritt gehört hätte. Dort blieb sie einige Minuten lauschend stehen und kehrte dann ebenso vorsichtig und leise zu Katharine zurück, kniete vor sie nieder, legte abermals den Finger auf den Mund und drückte darauf ihre beiden Hände fest auf die der armen Person, wobei sie ihr bedeutungsvoll in die Augen sah.

»Sprich kein Wort!« flüsterte sie, »ja, wenn die Beiden heraus kommen, so schließe deine Augen wieder. Kannst du es ertragen, wenn ich dir was sage, das nicht so schlimm ist, als was du eben gehört?«

Katharina nickte mit dem Kopfe.

»Lange nicht so schlimm, aber auch nicht angenehm. – Sei ruhig – im Grunde doch angenehm. Aber du mußt nicht aufschreien!«

Katharine machte mit den Augen ein verneinendes Zeichen.

»Bst!« fuhr die Tänzerin fort, indem sie einen ängstlichen Blick nach der Thüre warf; »es ist wahr, was du vorhin sagtest: er wird sich verheirathen.«

Katharine seufzte.

»Und das Kind –« fuhr Marie leise fort; –

»Nun, das Kind? – – Das Kind –?«[199]

»Es ist nicht todt,« hauchte das Mädchen kaum vernehmlich. – »Es lebt, aber sie haben es fortgebracht.«

– »Mir gestohlen –!«

»Wohin sie es gebracht haben, weiß ich nicht, aber ich erfahre es; sei ganz ruhig. Wir haben auch unsere Freunde!«

»Sie haben es fortgebracht! O, ich kann mir denken, um es zu verderben – das arme kleine Kind! Glaubst du nicht auch, Marie?«

Jetzt nickte die Tänzerin traurig mit dem Kopfe.

»Sie hätten es geschwind umgebracht, aber sie fürchteten sich. O, ich kann mir denken, wohin sie es gebracht haben. Zu so einem schrecklichen Weib, da wollte er damals schon, ich sollt' es hinthun. Gott! mein Gott! Da brauchen sie es nicht auf einmal umzubringen, da geht es langsam zu Grunde, da stirbt es stündlich – täglich – an – Hunger – Kälte – – Elend! –«

Bei diesen letzten Worten sank das arme Geschöpf abermals in die Kissen zurück, ihre Augen schlössen sich und fielen tief ein, und zwischen den bleichen Lippen zeigte sich ein einziger Blutstropfen.

»Sie stirbt!« rief die Tänzerin. »Sie stirbt!« schrie sie laut hinaus.

Und auf diesen Ruf hin kamen die beiden Weiber aus dem Nebenzimmer heraus und traten an den Sessel.

»Die arme Creatur!« sagte Madame Becker und stellte ihre Schnupftabaksdose auf den Tisch, um eine der kalten Hände Katharinens zu ergreisen, die jetzt schlaff herunter hingen. Der Pulsschlag zitterte nur noch in den Adern und schien nächstens ganz erlöschen zu wollen.

Aber das menschliche Herz ist stark und leistet fast das Unmögliche im Ertragen von Jammer und Elend.

»Wenn sie sterben würde,« sprach die Bauersfrau, »es war' das wahrhaftig kein Unglück für sie. Was soll die auch ein wenig[200] länger auf der Welt? Wenn sie heute nicht erliegt, treibt sie es doch vielleicht kein halbes Jahr mehr.«

Unterdessen hatte sich die Tänzerin über die Ohnmächtige hingebeugt und ihre frischen Lippen berührten fast den bleichen Mund der Anderen, während eine schwere Thräne um die andere aus ihren Augen herabrann.

»Seid doch stille!« bat sie nach einer Pause. »Sprecht nicht so laut, man sagt, so Ohnmächtige könnten manchmal Alles hören, was man neben ihnen spricht. Seht, sie ist gewiß nicht todt, ihre Lippen zittern, ihre Augen fangen an sich zu bewegen.«

»Ich habe genug von vorhin,« sagte die Bauersfrau, »und habe nicht Lust, noch einmal dieselbe Geschichte zu hören. Wenn sie wirklich wieder aufwacht, so gebt ihr den Todtenschein, er ist ächt und richtig.« – Sie warf Madame Becker einen bedeutsamen Blick zu. – »Auch kann sie die Bettchen und Kleider holen, wenn sie will.«

»Ich werde es ihr sagen,« entgegnete Madame Becker mit einem scheinheiligen Ausdruck im Gesicht; »und was die Begräbnißkosten anbelangt, so kann Sie sich an mich halten, Frau. Du lieber Gott! man hilft gern so einer armen Creatur ihren Kummer lindern.«

»Sind nicht groß, die Kosten,« versetzte kopfschüttelnd die Bauersfrau; »meine Schwester hat's heute Früh besorgt in ihrem Dorfe. Es war das ein kleines Loch, wenig Arbeit. Jetzt liegt schon der Schnee darauf; das wird ihr ein Trost sein, – denn wenn sie's nächstes Frühjahr aufsuchen kann,« setzte sie mit bedeutsamem Achselzucken hinzu, »so ist ihr Jammer auch schwächer geworden. – Adieu, Jungfer Marie!«

Die Tänzerin nickte stumm mit dem Kopfe, ohne aufzublicken, denn sie war beschäftigt, das Gesicht der Ohnmächtigen abermals zu waschen.

Madame Becker steckte ihre Schnupftabaksdose in die Tasche, nahm ein warmes Tuch vom Nagel, das sie umhing, und schickte[201] sich an, mit der Bauersfrau das Zimmer zu verlassen. An der Thüre warf sie noch einen scheuen Blick auf die Kranke. – »Es kommt mir doch etwas grauselich vor,« sagte sie dann leise zu ihrer Begleiterin. »Wenn ich mir das Mädchen so von hier aus betrachte, so meine ich wahrhaftig, es sei todt und wir trügen davon die Schuld.«

»Ach was!« entgegnete die Andere, »seid nur nicht so kleinmüthig, so was kommt schon im Leben vor. Todt ist sie auch nicht; seht, sie reißt ihre Augen auf und schaut nach uns her.«

»Ja, ja, Frau, Ihr habt Recht, sie blickt nach uns her, aber mit einem schauerlichen Blick.«

Damit zog sie die Andere zur Thüre hinaus.

Es brauchte wohl eine Viertelstunde Zeit, ehe sich Katharine so weit erholt, daß sie die Tänzerin um die näheren Umstände befragen konnte.

Marie sagte, was sie gehört:

Das Kind war also nicht gestorben, aber man hatte ein anderes, das gestern Nacht seinen Leiden erlegen, unterschoben und so wirklich einen Todtenschein erhalten. Wohin sie das lebende Kind gebracht, hatte keines der Weiber gesagt, wohl aber, daß es auf den Antrieb seiner Familie geschehen, die damit das letzte Band zwischen ihm und seiner ehemaligen Geliebten zerreißen wollte.

»Sei nur ruhig,« sagte die Tänzerin zu der Unglücklichen, deren Hände heftig zitterten, »sei ruhig, wir wollen schon erfahren, wohin sie das Kind gebracht.«

»Von deiner Tante glaubst du es zu erfahren?«

»Nein! nein! die sagt mir nichts; ich habe schon meine Wege.«

»Aber bald, Marie, nicht wahr? Bald, bald suchst du es zu erfahren, denn glaube mir, wohin sie auch das Kind gebracht haben, es befindet sich an einem Orte, wo es nicht lange leben kann; ich kenne solche Anstalten. – Du siehst mich schaudernd an? – ja, Marie. Gott erhalte deine Unschuld; sie nennen das keinen[202] Mord, wenn so ein Kind langsam dahinsiecht. – Es ist dann gestorben.« –

Die Tänzerin bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und finstere Gedanken bewegten ihr Herz. Hatte sie in der Umgebung, wo sie sich befand, vielleicht eine bessere Zukunft zu gewärtigen, als die Unglückliche, die vor ihr saß? Hatte ihre Tante nicht schon Andeutungen genug fallen lassen über nutzlos verschwendete Jugend und Zeit, über ein Kapital, das man nicht ruhig könne liegen lassen und das seine Zinsen tragen müsse! – Gräßlich! gräßlich! – – Und das unglückliche Mädchen vor ihr hatte doch der Liebe Alles gegeben, was sie besaß, sie aber stand in Gefahr, verkauft zu werden, wie die geringste Sklavin! –

»Wie dank' ich dir, Marie,« sagte die Nähterin, die sich allmählig wieder erholt, »wie dank' ich dir für deine Güte, für deine Hülfe! Glaube mir, ich will für dich beten und es wird dir keinen Unsegen bringen. – Für mich selbst wag' ich es kaum; du bist so gut, so unschuldig, so frisch und gesund und kannst einmal recht glücklich werden. Dann denke auch zuweilen an mich, die gewiß lange todt ist. Und wenn du, liebe, gute Marie,« fuhr sie leiser fort, indem sie ihre beiden Arme um den Hals der Tänzerin schlang, »wenn du einmal einen braven Mann hast und es dir gut geht, und du hast eine halbe Stunde Zeit, so besuche mein Grab und gib meinem armen Kinde, wenn es noch lebt und du es an irgend einer Ecke stehen siehst, ein kleines Almosen.«

Bei diesen Worten stürzte ein erleichternder Thränenstrom aus den Augen Katharinens, und die beiden Mädchen hielten sich eine Zeit lang umschlungen und weinten heftig; die Eine, indem sie mit trübem Blick an die Vergangenheit dachte, die Andere, indem sie finster in die Zukunft schaute. –

Der laute Klang eines Glöckchens vor dem Fenster riß sie aus ihren Träumereien empor.

»Ist es denn schon so spät,« fragte die Tänzerin, »daß der[203] Theaterwagen drunten hält, mich abzuholen? Verzeih', Katharine, da muß ich mich eilen; ich darf den Schwindelmann nicht warten lassen.«

»Und ich will auch gehen,« sprach seufzend die Andere, indem sie sich schwankend erhob. »Aber nicht wahr, Marie, ich sehe dich morgen oder sobald du etwas weißt?«

»Gewiß, Katharine, gewiß!« antwortete die Tänzerin, während sie ihren großen Korb auf den Tisch stellte, noch einmal flüchtig die Gegenstände darin übersah und die Tanzschuhe, an denen sie vorhin gearbeitet, dazu legte. »Ich werde heute Abend noch mit Einigen darüber sprechen. O, die Mädchen bei uns wissen recht gut Bescheid und Manche kennen die ganze Stadt.«

»Und du kommst dann zu mir Abends nach acht Uhr? – Mit welcher Ungeduld will ich dich erwarten!«

»Verlaß dich auf mich; ich thu', was ich kann.«

Damit band die Tänzerin ein Tuch um ihren Kopf, wickelte sich in einen alten verblichenen Shawl, noch ein Erbstück ihrer verstorbenen Mutter, nahm den großen Korb unter den linken Arm und begleitete mit dem rechten Katharinen sorgfältig nach der Thüre, die sie abschloß und den Schlüssel im Ofenloch versteckte.

Es ging etwas langsam die Treppe hinunter und Schwindelmann, der unten an der Thüre stand, trippelte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Drei bis vier Colleginnen streckten ihre Gesichter aus dem Wagenfenster hervor und blickten neugierig auf das bleiche Mädchen, das mit einem Händedruck und bittenden Blick sich von Marie verabschiedete und nun langsam an den Häusern dahin schlich.

»Der Teufel auch!« sagte Schwindelmann, »Mamsell Marie, Sie lassen uns lange warten. Das sind wir bei Ihnen nicht gewöhnt.«

»Es thut mir leid,« entgegnete die Tänzerin, »und ist wahrhaftig nicht meine Schuld.«[204]

»Wer ist denn das?« fragte Schwindelmann, indem er auf Katharina zeigte, die schon an den nächsten Häusern erschöpft stehen blieb.

»Eine unglückliche Person, der es sehr schlecht ergangen,« erwiderte Mamsell Marie.

»Und wo wohnt sie?« fragte eine der Tänzerinnen aus dem Wagen.

»In der Schlossergasse.«

»Dahinfahren wir gerade auch,« sagte nachdenkend Schwindelmann. Und als ihn ein bittender Blick des jungen Mädchens traf, rief er in den Wagen hinein: »Was meint ihr da drinnen, haben wir bis zur Schlossergasse noch Platz für eine arme kranke Person, die sonst vielleicht im Schnee stecken bleibt? – Es hat nicht Jedermann einen Wagen, wie ihr Prinzessinnen, und was man seinem Nächsten thut, das wird Einem im Himmel gut geschrieben.«

»Gott! der Schwindelmann wird fromm!« lachte eine lustige Stimme aus dem Wagen. »Mir ist es gleichviel.«

»Mir auch!« riefen ein paar Andere.

Und darauf sprang Mamsell Marie in den Wagen, der Schlag blieb offen. Andreas fuhr fort und Schwindelmann trabte neben der Equipage her, bis zur armen Katharine, die zu ihrer großen Verwunderung solcher gestalt auf die angenehmste und bequemste Art nach ihrer Wohnung in der Schlossergasse befördert wurde.

Schwindelmann aber wurde seit jenem Abend von den Tänzerinnen zum Hoftheater-Samariter ernannt.

Quelle:
Friedrich Wilhelm Hackländer: Europäisches Sklavenleben, 5 Bände, Band 1, in: F.W.Hackländer’s Werke. Stuttgart 31875, S. 195-205.
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