Vierte Szene.

[89] Die alte und die junge Raschke kommen herein, durcheinander weinend und schimpfend.


DIE ALTE RASCHKE. Von mir können Sie gar nichts erfahren ... ich hab'[89] im Bette gelegen ... oh mein Gott du du ... was soll ein armes, gejagtes Weib anfangen, wenn der Mann über die fünfundsiebenzig Jahre ist ... wir haben ein elendes Leben Tag und Nacht ... und wenn's außerdem alle Wege vollends mit Schnee zuschmeißt ...

DIE JUNGE RASCHKE ausfällig. Das ist bloß der verfluchtige Wachtmeister, der alle Schuld immer grade auf die ärmsten Leute schmeißt ... an den Hals spring' ich dem Kerle noch einmal ...

DER AMTSSEKRETÄR hält sich die Ohren zu. Liebe Frau ... ich bitte Sie um alles in der Welt ... gebärden Sie sich nicht unsinnig ... mir springt der Schädel ohnehin ...

DIE JUNGE RASCHKE ohne sich stören zu lassen. Ins Loch möcht' uns der Kerl bringen ... und obendrein mein Mädel verführen ... denn ein hübscher Kerl ist doch der Gendarm nun einmal ... und die Menschen sollen doch dem Wachtmeister parieren, wie er will ... wenn das nicht meine Tochter ... und gar eine anständige flinke Katze wär' ...

DER ALTE RASCHKE plötzlich erbost. Du alte Zottel von Weib ... was heißt das? ... [90] deine Tochter möcht' er dir verführen? ... Herr Amtsaufseher ... das sind nichts als Lügen ... dieses Weib hat drei Kinder geboren ... und hat auch nicht ein einziges groß gezogen ... nun hören Sie einmal dieses Lügenmaul an ... ihre Tochter ... freilich ... so 'ne Tochter möcht'st du wohl haben ... das glaub' ich ... aber das Mädel ist deine Tochter niemals ...

DER AMTSSEKRETÄR. Wen meint Ihr denn überhaupt ... von was redet Ihr denn überhaupt?

DER ALTE RASCHKE. Das Mädel ... die Rapunzel ... soll deine Tochter sein? ... das ist nämlich ... da werde ich Ihnen einmal die Geschichte genau erzählen ... diese Tochter ... die hat ein Mann zurückgelassen ... ein Mann ... der ein Mann war ... und eine Frau ... die eine Frau war ... nicht eine solche Zottel ... ein Mann, der nicht stehlen ging ... gar niemals im Leben ... und der sich nie Flaschen und Speckseiten und Schinken ... ja ... ich will gar nichts weiter hier sagen ... das war ein Mann, der die Besenbinderei satt hatte ... jung, wie er war ... wie gar sein Weib gestorben war ... ja ... das war ein Mann ... der dachte ... warum sollte ich denn immerfort angeschmiedet sitzen, wie ein Sträfling auf der Holzbanke und Ruten binden ... die Welt hat ja keine Mauern ... ich werde einmal sehen, ob ich nicht auf irgendeinem Wege das Glück[91] finden kann ...'naus war er ... das Mädel ließ er ... und dieses Mädel ...

DER AMTSSEKRETÄR. Ja eben ... nun ... was ist mit dem Mädel?

DER ALTE RASCHKE. Das Mädel ist des Mannes Tochter ... der mein Jüngster war ... und der über mich sagte ... Vater, sagt' er über mich ... mein junges Weib ist tot ... ich zieh' in die Welt 'naus ... Ihr haltet mir das Mädel hübsch vom Ungeziefer reine ... ich will das Glück suchen ... Ihr wartet auf mich ... ich komme wieder ...

DER AMTSSEKRETÄR. Bringen Sie Rapunzel!

DER ALTE RASCHKE. Ach, du mein lieber, himmlischer Vater ... lieber, guter Herr Amtsaufseher ... das ist aber ein liebes, folgsames Ding ... das haben wir behütet ... Gott Strambach ... das haben wir immer behütet ...


Quelle:
Carl Hauptmann: Die armseligen Besenbinder. Leipzig 1913, S. 89-92.
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