Fünfte Szene.

[92] Rapunzel wird vom Gendarm hereingeführt.


DER AMTSSEKRETÄR. Hunnius ... wo bringen Sie das Mädel her? ... bringen Sie das Mädel aus der Fabrik? ...[92]

DER GENDARM. Nein, Herr Sekretär ... das Mädel war heute nicht in der Fabrik ... und der Torschließer sagte mir, sie wäre auch gestern nicht in der Fabrik gewesen ... überhaupt sagten die Leute, Rapunzel liefe dem Ausländer schon grade nach wie ein Hundel ... aber unten im Wirtshause hab' ich sie doch nicht finden können ... ich hab' sie erst aus der rauchigen Spelunke oben am Busche 'rausholen müssen ... da war sie mutterseelenalleine in der Besenbinderstube ... und tanzte und lachte ... und machte allerhand Zeug für sich ... nämlich ... zuerst hab' ich sie eine Weile durch's Fenster beobachtet ...

DER AMTSSEKRETÄR ergreift das Seidentüchel vom Tisch. Wo ist das Seidentüchel her?

RAPUNZEL in Aufregung. Das hat mir mein Vater gekauft ...

DER AMTSSEKRETÄR. Wer ist dein Vater?

RAPUNZEL lacht verlegen. Ich hab' keinen Vater ... der Vater ist in der Fremde ... der Vater ... ja ... sag' du's ihm doch, Großvater ...[93]

DER ALTE RASCHKE. Der richtige Vater ... das ist eben der, der in die Fremde gegangen ist ...

RAPUNZEL. Nun weiter ... du sagst doch immer noch was ...

DER ALTE RASCHKE. Ich erzähl's ihr immer, Herr Amtsaufseher ... daß ihr Vater in die Welt gegangen wär', das Glück suchen oder so ... weil wir doch einstweilen noch immer nur armselige Besenbindersleute sind ...

RAPUNZEL. Nun also ... und also hab' ich einstweilen keinen Vater ... da ist der Großvater mein Vater ...

DER AMTSSEKRETÄR. Das Tüchel hat dir also dein Großvater gekauft? ... weißt du das aber auch genau?

RAPUNZEL. Jawohl ... das weiß ich ganz genau ...

DIE JUNGE RASCHKE. Herr Jesus ... da sag's doch, Mädel ... du bist doch sonst nicht so auf's Maul gefallen ... da sag' doch gleich alles ...


Rapunzel schweigt.


DER AMTSSEKRETÄR. Nun?[94]

RAPUNZEL. Weiter weiß ich nichts ...

DER AMTSSEKRETÄR. Wieso hat der Alte das Tuch gekauft?

RAPUNZEL. Ich kam aus der Fabrik ... ich bin doch immer den ganzen Tag unten im Zackentale in der Fabrik ... und da ist er eben unterdessen zum Kaufmann gelaufen ... und er wird sicher gelacht haben, der alte Vater ... wie er's immer macht ... nämlich ... immer muß er seinen Spaß mit mir treiben ... manchmal legt er sich auf den verräucherten Backofen in unserer Stube ... und wenn ich im Finsteren aus der Fabrik heimkomme, da tut er, als wenn gar niemand drinne wär' ... und brummt bloß ... und da merk' ich's erst ... ja ...

DER AMTSSEKRETÄR. Also ... ich weiß schon ... gesehen hast du's also nicht, wie er das Tuch gekauft hat?

RAPUNZEL. Jesus ... Jesus ... der Großvater hat's doch erzählt ... da werd' ich's doch wissen ...

DER GENDARM. Ich hab' noch etwas sehr Wichtiges zu vermelden, Herr Sekretär ...[95]

DER AMTSSEKRETÄR. Nun los, Hunnius ...

DER GENDARM kramt eine Reihe Schmucksachen vor dem Amtssekretär aus aus einem Schnupftüchel. Sachen ... wie man sie nicht sieht ... solche Sachen haben die Leute ... Sachen ... wie sie die Gräfin nicht hat ... solche Sachen haben die Leute ...

DER ALTE RASCHKE starrt plötzlich auf. Was für Sachen? ... welche Leute? ...

DER GENDARM. Eine Kette ... über und über funkeln tut sie ... ein Ring ... funkeln tut er ... ein Armband ... eine Brosche ... na ... über und über funkeln tut sie ... alles das gefunden ... bei wem? ... damit trieb das Mädel oben in dem Rauchloche vor einer Spiegelscherbe und so einsam ihr Wesen ... und wollte es schnell in ihre Fabriktasche verstecken, wie ich unverhofft in die Stube trat ...

DER AMTSSEKRETÄR. Wie? ... gefunden? ... bei wem?

DER GENDARM. Ja ... ich kann's nicht anders sagen ... und kann's selber noch nicht glauben, bei wem ...

DER ALTE RASCHKE starrt immerfort auf die Schmucksachen. Nun Jesus ... Jesus ... bei wem?[96]

DIE ALTE RASCHKE heulend. Wir sind armselige Besenbindersleute immer gewesen, Herr Amtsaufseher ... ich sag's Ihnen ... der Mann ist fünfundsiebenzig Jahre alt geworden ... und hat sich ein Leben lang im Staube gemüht ... und ich hab' mir die Wimpern von den Augenrändern 'runtergeflennt ... und hab' immer nur mit dem Wasserkruge und mit einer vertrockneten Brotkruste in den Händen im Leben gestanden ...


Der Amtssekretär gibt dem Gendarm einen Wink.


DER GENDARM hält Rapunzel am Arm fest und sagt zu den anderen Raschkes. Nun vorwärts!

DER AMTSSEKRETÄR. Ins Amtsgefängnis!

DER ALTE RASCHKE. Ein Balken könnte mir nicht toller auf den Schädel schlagen, Herr Amtsaufseher ... Mädel ... Er hat sie plötzlich am Hals gepackt. Nu red'st du auf der Stelle ... sonst erwürg' ich dich ... wo kommen die fremden Sachen her?

RAPUNZEL. Erwürg' mich ... kein Laut kommt aus der Kehle ...[97]

DER ALTE RASCHKE hat sie wieder losgelassen. Jesus ... Jesus ... lassen Sie mich noch einmal die Sachen ansehen ... aber halten Sie sie feste ... daß sie nicht etwa gar verzaubert sind ... und fortfliegen ... und ich muß dann wieder büßen ... nein ... das sind aber Sachen.

DIE ALTE RASCHKE weinend. Das hat der Vater davon, daß er das Mädel immer in Zucht gehalten hat, als wenn sie eine Englische wär' ... und immer nur wartet ... und immer nur wartet ...

DER ALTE RASCHKE während alle Raschkes vom Gendarm und Polizisten hinausgeführt werden. Führt mich nur ruhig ins Amtsgefängnis ... immerzu ... ich werde das aushalten ... ich bin längst wieder bei Verstande ... das ist sogar den Heiligen vorgekommen, daß allerlei verführerische Dinge vor ihren Augen tanzten ... der Mensch muß die Versuchungen geduldig ertragen ... und muß warten ... Moses hat vierzig Jahre gewartet ... warum sollte ein armseliger Besenbinder ... ich bin doch erst fünfundsiebenzig Jahre ... nein, Rapunzel ... was wird denn aber über dich der Vater sagen ... wenn der endlich heimkommt ...


Die Raschkeleute von Gendarm und Polizist begleitet ab.
[98]

DER AMTSSEKRETÄR nimmt einen Taschenspiegel heraus und betrachtet sich eine Weile drin, schneidet einige Gesichter und horcht. Es klopft. Herein!


Quelle:
Carl Hauptmann: Die armseligen Besenbinder. Leipzig 1913, S. 92-99.
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