Zehnte Szene

[223] Unterdessen geht der Strolch zögernd vom Haupteingang ganz bis zu den Stufen und läßt sich da nieder. Beginnt aus dem Ränzel Eßbares auszupacken.


DER DOMORGANIST betrachtet ihn scheu von fern. Auch ein verachteter Mann ...


Der Strolch nimmt keine Notiz von ihm. Ins Essen gierig vertieft.


DER DOMORGANIST geht zögernd an ihn heran. Woher ... wohin ...

DER STROLCH spröde. Aus dem Leibe einer kreißenden Frau ... und laufe hastig dem Grabe zu ...

DER DOMORGANIST. Witzig ...

DER STROLCH. Ob das witzig ist ... dabei die Wahrheit ...

DER DOMORGANIST. Wer sind Sie ...

DER STROLCH. Ein Edelmann ... früher ... eher ein Stein jetzt ...

DER DOMORGANIST setzt sich auf die Stufe. Duldest du mich hier ...[223]

DER STROLCH ohne Acht. Beide Hände hinhaltend. Da ... feine Hände ... gräfliche ... früher ...

DER DOMORGANIST lacht. Ja ja ... lieber Bruder ...

DER STROLCH. Sind billige Brüder ... hier auf der Erde ...


Der Domorganist in sich bohrend.


DER STROLCH. Oder meinen Sie einen von den Brüdern, die für einander ihr Leben lassen ... die gibt's nicht auf Erden ... die Erdenbrüder wollen die dicke Melone für sich erjagen ... und darum womöglich den andern erdrosseln ...

DER DOMORGANIST scheu. Eine Pause. Was treiben Sie ...

DER STROLCH. Ich peitsche das Rad der Zeit ... wie der Jockei den Renner ... damit es zeitig genug mit mir in den Abgrund springt ...

DER DOMORGANIST. Das sieht man vor sich ... höchst malerisch ... so was könnte ein Meister des Pinsels malen ...

DER STROLCH. Es lohnt sich nicht, einen Aussätzigen malen ... wissen Sie ... früher ... als Jüngling der Jeunesse dorée ... junger Edelmann ... Monokel im Auge ... da malten sie mich ... damals konnte ich mir alle blutigen Früchte vom Lebensbaume stürmisch herunterreißen ... weil ich Gold warf ... da konnte ich die göttliche Sehnsucht und das innere, sichere Leben mit Weibern und Wein nur so verjubeln ... merkte es gar nicht, wie ungewiß alles in mir wurde ... wie ich in meinen Fundamenten verfiel ... wissen Sie ... mit Rennpferd ... mit goldenem Geklingel von vier leichten Silberschimmeln vor meinem Dogcart ... so hat mich ein Meister des Pinsels gemalt ... jetzt bin ich Grind ...[224]

DER DOMORGANIST. Huuh ... laß mich mit deinem Erdenjammer in Ruh ... ich könnte meinen Schädel auch auf den Steinen zerschlagen ... und schluchzen und heulen ... in meiner Lage ...

DER STROLCH. Ich bin kein Schwächling ... ich wandre heut hart ... ich... begreife heut Aufgang und Untergang ... Absturz ... Labsal ... letzte Erkennung ... letzte Beglänzung ...

DER DOMORGANIST. Absturz ... Labsal ... letzte Erkennung ... letzte Beglänzung ...

DER STROLCH. Ja ... letzte Beglänzung ... da ... Mit Geste des ausgestreckten Armes. man denkt, es ist hoffnungslos ... immer wieder im Frühling mit weißen Blüten bekränzt die ewigen Chausseen ... immer wieder im Herbste mit Ebereschbeeren ... die ewige Ferne ... immer wieder im Winter verhangen mit Schnee ... und man selber gefangen im Mauerloche ... im stinkigen Ortsgefängnis ... was tut das alles ... am Ende wird der gehetzte Landstreicher in einem Walde ... oder irgend in einer Bauernscheune sterben ... wenn nicht der Gendarm oder Polizist versucht, ihn noch weiter zu hetzen ... aber der Tod kommt mit seiner magischen Allmacht ... und der Tod wird die Jammergeburt dieses gehetzten Menschentieres gänzlich verwischen ...

DER DOMORGANIST. Ja ... wie denn ... weiter ...

DER STROLCH lacht. Mein Vater hatte z.B. vier Ärzte wie er starb ... über meinem Sterben wird vielleicht ein Häher vom Baume Wache halten und kreischen ... äußerlich ist das ... was können vier Ärzte beim Sterben tun ... das Allerwunderbarste wird sich dann innen begeben ... in jedem ... mein Vater z.B. war im Leben ein harter, stolzer, herrischer Herr ... er verachtete selbst seine Kinder ... Verachtung wohnte immer in seinem Gesicht ... natürlich solange er nicht unter Seinesgleichen den Heiteren spielte ... aber ... mein Herr ... als er aufgebahrt lag ... da war der bisherige Vater nicht mehr vorhanden ... da war er adlig geworden ... adlig ... großartig ...[225] demütig ... schön ... schwebte im Raume ... ein ganz Befreiter von all den Grimassen harter Gebarung ... selbst einen wohlbestallten Domorganisten hätte er, wie er so in die Ewigkeit fortzog, höchst klein wie eine Fliege gesehen ... lag doch vor uns in seinem Sarge noch ... schwebte trotzdem schon fern ... er trug schon verklärte Gestalt ... du glaubst es mir nicht ... du mußt es mir glauben ... ich ... heute ein Strolch noch ... vielleicht schon morgen werd ich erhaben sein ... unkenntlich allen niederen Verächtern ... fortziehen von euch in die Ewigkeit ... in verklärter Gestalt ... vor aller Augen ... kein Mensch wird Staub und Lumpen ... und den bretternen Sarg der Armut mehr sehn ... das weiß ich sicher ... da werden die irdischen Menschen plötzlich mein höheres Wesen bestaunen ... verlaß dich auf mich ... wirf die Menschenangst von dir ... das letzte im Leben ist lauter Güte ... sichtbar ... leibhaftig ... entschwebt man ... wie Christus ...

DER DOMORGANIST erschüttert. Eine Weile stumm. Ja ... ja ... das sind Gesichte ... oh Mensch ...

DER STROLCH. Mensch ... armer Name ... wirf ihn von dir ... ergründe dich nackt und namenlos ...

DER DOMORGANIST nach einer Weile. Warst du im Dome ...

DER STROLCH. Ich war im Dome ...

DER DOMORGANIST. Hast du meine himmelstürmende Totenmusik gehört ...

DER STROLCH. Ja ja ... ich habe Ihre himmelstürmende Totenmusik gehört ... Er lacht häßlich.

DER DOMORGANIST. Was lachen Sie grell ...

DER STROLCH lacht wieder. Ach was ... Ihre himmelstürmende Totenmusik ... und dann Schimpf und Schande ... da muß ich lachen ... ja ja ... ich mache, wenn ich menschenfern bin, Musik ... wenn ich das Gesindel hinter mir habe ...[226]

DER DOMORGANIST. Sie ... Musik ...

DER STROLCH. Wenn ich meine Chausseen haste ... die nach der großen Fata Morgana endlich doch hinführen ... da greife ich kühn hinein ... auf imaginäre Tasten natürlich ... da rast sich mein staubgrauer Leib wegelang aus wie im Wahnsinn ... da tumultuieren aus mir bacchantische Töne ... was so ein gehetzter, einstiger Lüstling aus tiefster Inbrunst noch kann ... da gell ich ... gluckse ... pfeife ... flöte ... schrei ich mich aus ... Er lacht. jauchze ... orkane die Schöpfung an ... preise die Weite, die nie erreichbar ... krächze wie die schwarzen Krähen gen Himmel ... preise das Sommerlicht ... übertöne die Kummergrauheit ... weiß rein nichts mehr von Hasse und Abkehr des ausgestoßenen Mannes ... überflute mit innerem Gefühl die strahlende Sonne ...

DER DOMORGANIST. Tja ... Gott ... auf imaginären Tasten natürlich ... ich spiele auch nicht bloß immer auf Orgeltasten ... ich bin der berühmte Domorganist ... Er lacht.

DER STROLCH ist plötzlich elegant aufgesprungen und macht ein ganz vornehmes Kompliment. Graf Santa Rocca ... ich habe die Ehre ... ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen ... Sie sind der berühmte Domorganist ...

DER DORNORGANIST. Seltsamer Büßer ...

DER STROLCH stolz. Nein ... ja nicht Büßer ... nur Überwinder ... ein armes Stück Erde, zum Menschen geboren ... das sein Dasein verhunzte ... und Grind werden mußte ... Eine Weile gemeinsame Stummheit.

DER DOMORGANIST halb für sich. Natürlich ... natürlich ... zum Menschen geboren ist noch keine Gewißheit ... wir reiten alle auf Tode und Abgrund ... und mancher erwacht ... erkennt sich ... und schauert ...

DER STROLCH. Ach ... im Grunde ist das alles nicht wichtig ... ist tausendmal da ... kommt millionenmal wieder ... ich will durchaus nicht noch offener sein ... [227] alle Schmach meines Lebens Ihnen ausplaudern ... erzählen, wohin ich geriet, als ich schwachherzig wurde ... die Nacht und den Morgen ... und Tag ... nicht wiedererkannte ... und die Haare verlor vom wilden Leben ... und heimlich wurde ... und immer noch dachte, ich könnte den Mächten ein Schnippchen schlagen ... Scheu von der Seite den grabenden Domorganisten bestaunend. fort jetzt ... ich gehe ... der Worte sind jetzt genug gewechselt ... ich will Einsamkeit um mich ... sonst verpaß ich am Ende wieder mein Heil ...

DER DOMORGANIST. Nein ... höre mich, Bruder ... ich hätte eine Bitte an dich ...

DER STROLCH. An mich ... eine Bitte ... wer bettelt den Staub an ...

DER DOMORGANIST. Du mußt mit mir kommen ...

DER STROLCH. Wohin ...

DER DOMORGANIST. Komme an unsern Sonntagstisch ...

DER STROLCH. Mensch ... berühmter Domorganist ... Sie ... werden doch nicht diesen schmachbeladensten Landstreicher an Ihren Sonntagstisch laden ...

DER DOMORGANIST. Komme ... ich will es ... Georginel und Mutter sollen staunen ... werden meine Schmach nicht mehr sehn ... sie werden aufgelöst sitzen in deine Kreuzigung und deine letzte Befreitheit und letzte Beglänzung ... du mußt am Sonntagstisch unter uns sitzen ... vor Mutter ... und vor der Reinen, die meiner wartet ... ich will dich anlegen wie einen Panzer über meine Blößen ... komme ...

DER STROLCH zuerst verlegen. Dann heiter. Ha ... gut ... ich komme ... ich werde also als staubgrauer Heiland am Sonntagstische unter euch sitzen ... Beide ab.

Der Vorhang fällt.


Quelle:
Carl Hauptmann: Die goldnen Straßen. Leipzig 1918, S. 223-228.
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