35.

[265] Und mit Tränen in den Augen,

Unaussprechlich rührend flehte

Die Infantin Doña Uraca,

Den ungleichen Kampf zu meiden,

An den väterlichen Greis.
[265]

»Trätet Ihr dem Cid entgegen«,

Sprach sie, »ach, der edle Cid

Wüßte sein und unsre Ehre,

Beide rettend, zu verbinden;

Aber Lara, unversöhnlich

Dürstet er nach unserm Blut.

Und Ihr, in so hohen Jahren,

Nach so viel bestandnen Kämpfen,

Wollt Ihr Eurer mich berauben,

Edler Greis? Oh, so bedenkt,

Was Ihr meinem Vater schwuret:

Nie mich zu verlassen, nie!


Ach, hätt es gewollt der Himmel,

Daß der Cid –«


»Wie dann, Infantin?

Daß der Cid –«


»Vom Undankbaren

Freilich sprechen wir zu viel.

Doch versprecht mir –«


»Was versprechen?« –

»Wenigstens zuletzt zu kämpfen –«


»Ich – zuletzt? Wie dann, Infantin?

Habe nicht ich auf der Mauer,

Ich den Schimpf empfangen, ich?« –


»Unbiegsamer, lasset Eure

Jungen Söhne vor Euch streiten –«


»Wenn sie fallen, denkt, Infantin,

So verlieret Ihr mit ihnen

Ihrer Dienste sechzig Jahr –«


»Und wenn Ihr fallt?« –
[266]

»Eine Stunde

Oder zwei von meinem Leben,

Die verlier ich und nicht mehr.

Und mein Tod, wenn er dem Kampfe

Meiner Söhne kühn vorangeht,

Ihnen schaffet er den Sieg.«


Alle Damen, alle Krieger,

Arias, Söhne selbst, vor allen

Doña Uraca, alle flehen

An den väterlichen Greis,


Zuzuschauen erst dem Kampfe –

Er, gezwungen von den Bitten,

nicht im mindsten überzeuget,

Wirft, ohn einig Wort zu sagen,

Wirft die Waffen weg im Zorn.

Quelle:
Herders Werke in fünf Bänden, Band 1, Weimar 1963, S. 265-267.
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