Zweite Szene

[504] JAROMIR tritt links ein, erstaunt. Was machen Sie schon wieder hier? Leise zu Melanie. Ich bin überrascht!

MELANIE. Wieso denn schon wieder? Ich hab den Franz gerade gerufen. Er muß mir helfen, alles schnell in Ordnung bringen. Sie sieht auf die Armbanduhr. Ich reise in zwei Stunden und zwanzig Minuten.

JAROMIR. Sie reisen? Sie reisen – von hier ab?

MELANIE. Um neun Uhr fünfzehn –


Theodor ist eifrig tätig, kleine Toilettengegenstände, Sachets, Pantoffel, Bänder, Handschuhe, die in allen Teilen des Zimmers verstreut liegen, zusammenzusuchen.


JAROMIR fassungslos vor Staunen und Ärger. Sie – Unwillkürlich sich zu Theodor wendend. Was soll denn das heißen?


Theodor hält Jaromirs Blick aus, erwidert ihn mit verbindlichem Lächeln und zeigt auf Melanie.


MELANIE. Warum fragen Sie denn ihn? Ich will es Ihnen gerade erzählen. Leiser. Ich habe beim Fortfahren von zu Haus kein gutes Gefühl gehabt.[504]

JAROMIR. Inwiefern?


Theodor, im Begriff ein Morgenkleid an sich zu raffen, das dort liegt wo Jaromir lehnt, nötigt diesen, ihn devot anlächelnd, seine Stellung zu wechseln.


MELANIE halblaut. In bezug auf meinen Mann und diesen Ausflug hierher. Ich habe telephoniert. Es war, wie ich gedacht habe. Er nimmt es sehr übel, daß ich ohne ihn gefahren bin.

JAROMIR völlig verstört und zu laut, ja mit einem Aufstampfen des Fußes. Das ist ungeheuerlich!

THEODOR. Befehlen?

JAROMIR. Ich habe nicht zu Ihnen gesprochen.


Theodor lächelt und sammelt Nadelpolster, Photographien, französische Bücher, Flakons und anderes, trägts ins Toilettenzimmer, eilig ab und zu gehend.


MELANIE sieht wieder auf die Armbanduhr. Es bleibt mir gerade die Zeit, mich bei Ihrer Frau Mutter zu entschuldigen und Ihrer Frau adieu zu sagen.

JAROMIR beißt seine Lippen.

MELANIE von jetzt an mit einer reizenden Ruhe und Sicherheit. Sie haben eine reizende kleine Frau. Leiser. Wir haben zu wenig an Ihre Frau gedacht. Und auch zu wenig an meinen Mann.

JAROMIR so zornig, daß er nicht mehr höflich ist. Jetzt auf einmal, das ist unerhört!

MELANIE sehr ruhig und sanft. Ich habe das heute vormittag plötzlich gefühlt.

JAROMIR ganz leise und sehr böse. Heute vormittag! Ah! ah!

MELANIE wegrückend und zugleich einen lauten Ton nehmend. Es hat mich sonderbar und nicht angenehm getroffen, wie Sie diese Geschichte – die im April passiert ist – diesen Abend in der Jagdhütte – wie Sie das sehen –

JAROMIR. Wie ich das sehe?

MELANIE. Ja, die Rolle, die mein Mann dabei gespielt hat – dabei und bei früheren Vorfällen –

JAROMIR. Vorfälle nennen Sie das? Das ist ein etwas unerfreulicher Ausdruck.[505]

MELANIE ruhig und halblaut. Ich weiß. Ich habe das erlebt, Jaromir, erlebt, gelebt und Leiser. vielleicht auch genossen. Ich bin manchmal eine sehr leichtsinnige Person – und – ich kann es nicht ertragen, einen Freund zu verlieren, und deshalb reise ich ab.

JAROMIR. Das ist ja ein böser Traum! Diese Aufeinanderfolge, diese Duplizität der Fälle –

MELANIE. Was haben Sie denn? Welche Duplizität? Ich sage es Ihnen doch: ich habe gefühlt, daß mein Mann nicht gerne sieht, daß ich allein hier bin. Ich bin auf einen Sprung hergekommen, um Ihre Ungeduld zu stillen – denn Sie sind ein ungeduldiger Mensch und ich bin eine alte gute Freundin –

JAROMIR. Das nennen Sie meine Ungeduld stillen?

MELANIE. – und ich fahre zurück und komme, wenn es Ihnen recht ist, die nächste oder übernächste Woche – mit meinem Mann. Er wird sich hier sehr wohl fühlen. Er hat einen besonderen Sinn für Wesen, wie Ihre Frau eines ist.

JAROMIR wütend. Da ist irgend was passiert, das du mir verheimlichst. Dahinter steckt ein Mann, aber nicht der deinige!

MELANIE sieht ihn an. Oh, wie schlecht Sie mich kennen, Jaromir, das könnte einen beinahe traurig machen!

JAROMIR. Ich kenne dich schlecht?

MELANIE sehr ruhig. Sie kennen vielleicht manches von mir, aber nicht das, was vielleicht das Beste an mir ist. Nicht die Seite, die zum Beispiel mein Mann kennt. Es ist meine Schuld. Ich habe das vor Ihnen versteckt, ebenso, wie ich vor ihm das andere versteckt habe. Und ich weiß wiederum, Sie verstecken geflissentlich vor mir Ihr Bestes –

JAROMIR. Ah, ah, das wäre?

MELANIE. Ihre Ehe und die große Liebe, die nach einem etwas überstürzten, Ihrerseits geradezu frivolen Anfang diese gerade, ehrliche, bezaubernde und in Sie verliebte hübsche Person in Ihnen geweckt haben muß –

JAROMIR. Ah, Sie empfehlen mir meine Frau! Ah – das ist ja eine Serie! Ihr seid eine wie die andere! Sklavinnen eurer[506] mehr oder minder hysterischen kleinen Launen! Seid noch so verschieden voneinander, in einem seid ihr gleich, in einer grenzenlosen Selbstsucht – Wer erlaubt euch, das Herrliche, das uns euch ausliefert, in dieser Weise zu verwalten?


Es klopft an der Tür links.


MELANIE schnell. Herein.


Quelle:
Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Band 2–5: Dramen, Band 4, Frankfurt a.M. 1979, S. 504-507.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Unbestechliche
Band XIII: <br /> Dramen 11: Der Unbestechliche
Der Unbestechliche: Lustspiel in fünf Akten
Der Unbestechliche: Lustspiel in fünf Akten
Der Unbestechliche.
Der Schwierige / Der Unbestechliche.

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Prinzessin Brambilla

Prinzessin Brambilla

Inspiriert von den Kupferstichen von Jacques Callot schreibt E. T. A. Hoffmann die Geschichte des wenig talentierten Schauspielers Giglio der die seltsame Prinzessin Brambilla zu lieben glaubt.

110 Seiten, 4.40 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon