Die künftige Geliebte

[187] Entschwebtest du dem Seelengefilde schon,

Du süßes Mädchen? Wehet das Flügelkleid

Dir an der Schulter? Bebt der Strauß dir

Schon an der wallenden schönen Brust auf?


Ein süßes Zittern zittert durch mein Gebein,

Wann mir dein Bildniß lächelnd entgegentanzt,

Wann ichs auf meinem Schooße wiege,

Und an den klopfenden Busen drücke.


Der Garten taumelt, rötheres Abendroth

Strömt durch die Blätter, purpert die Mayenluft;

Wie Engelflügel niedersäuseln,

Rauschet die Laube vom Kußgelispel.


An deiner Leinwand, flattert vielleicht mein Bild

Dir auch entgegen, schmiegt sich an deine Brust;

Und eine Sehnsuchtsthräne träufelt

Über die seidenen Purpurblumen.


Seyd mir gesegnet, Thränen! Ihr floßet mir!

Bald schlägt die Stunde! Dann, dann entküß ich euch

Dem blauen Aug, der weißen Wange;

Trinke den Taumel der Erdenwonne!


An voller Quelle weil' ich, und schöpfe mir

Der Freuden jede, Himmel auf Himmel mir;

Sie, deren Seelen mich umschwebten,

Wann ich im Hayne der Zukunft träumte.


Blüh' unterdeßen schöner und schöner auf,

Du süßes Mädchen! Leitet, ihr Tugenden,

Wie eine Schaar von Schwesterengeln,

Sie durch die Pfade des Erdenlebens!
[187]

Ein reinrer Aether lache herab auf dich!

Tönt, Nachtigallen, wann sich der Abend neigt,

Im Apfelbaum vor ihrem Fenster,

Goldne Träum' um ihr Mädchenbette!


Doch süßre Träume thaue das Morgenroth

Um deine Schläfen, Träume der Seraphim,

Wenn jener Tag dem Meer entschimmert,

Wo ich dich unter den Blumen finde!
[188]

Quelle:
Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Sämtliche Werke. Band 1, Weimar 1914, S. 187-189.
Lizenz:
Kategorien: